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Marcel Beyer ist der Büchner-Preisträger 2016.

© Arno Burgi/dpa

Wichtigste deutschsprachige Literaturauszeichnung: Marcel Beyer erhält Büchner-Preis 2016

Sprache und Wissen, Reflexionen über Geschichte und Zeit: Der Schriftsteller, Lyriker und Essayist Marcel Beyer erhält den Georg-Büchner-Preis 2016.

Das wurde auch Zeit – so lässt sich die Entscheidung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung für Marcel Beyer als Georg-Büchner-Preisträger 2016 spontan kommentieren. Immer wieder wurde Beyer in den vergangenen Jahren als heißer Kandidat gehandelt, auch weil er ein geradezu idealtypischer Georg-Büchner-Preisträger ist: noch einigermaßen jung, Beyer ist Jahrgang 1965, trotzdem schon für ein nicht kleines Werk verantwortlich, ein vielseitiges zumal.

Was die Jury in ihrer Begründung auch gleich im zweiten Satz anführt: „Sie (die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung) zeichnet damit einen Autor aus, der das epische Panorama ebenso beherrscht wie die poetische Mikroskopie. Ob Gedicht oder Roman, zeitdiagnostischer Essay oder Opernlibretto, für Marcel Beyer ist Sprache immer Erkundung.“ Beyer selbst hat diese Charakterisierung zuletzt in seiner Gedichtsammlung „Graphit“ zudem in der Tiefe der Zeit weiteren Halt gegeben. Da lässt er ein lyrisches Ich sagen: „Ich / bin ein Mann, der sich in/alle Zeit verzweigt, ein Mann/der tief in Schützengräben/blickt und nichts vergessen kann.“

"Kaltenburg" ist sein jüngster, 2008 veröffentlichter Roman

Das kann man als Poetologie eines Schriftstellers lesen, der sich in seinen Romanen „Flughunde“ aus dem Jahr 1995, „Spione“, veröffentlicht 2000 und zuletzt „Kaltenburg“ (2008) intensiv mit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzt, dabei stetig Geschichtsreflexion mit Sprachreflexion verbindend. Beyers Romane sind sorgfältig recherchiert einerseits, mit einer gewissen Leichtigkeit erzählt andererseits, teilweise - wie seine Gedichte - auch hochgradig rhythmisiert, oft chronologisch zersplittert und von gegenläufigen Erinnerungsschleifen durchsetzt. „Kaltenburg“ handelt von einem Ornithologen, eben jenem titelgebenden Ludwig Kaltenburg, einem großen Zoologen, der auf dem Dresdner Elbhang wohnt, zusammen mit seinen Tieren, und 1961 nach dem Mauerbau nach Wien verschwindet. Sehr gut gekannt hat ihn der Ich-Erzähler dieses Romans, Hermann Funk. Dieser erinnert sich in dem Roman seiner eigenen Jugend in Posen, an die Bombenächte in Dresden, die ihn zum Waisenkind machen, an sein Leben in der DDR - und an seinen Ersatzvater Kaltenburg. "Um niemandem, das heißt: um keins seiner anderen Tiere habe ich Kaltenburg jemals so besorgt erlebt wie um die Dohlen."

"Ich bin ein Mann, der sich in alle Zeit verzweigt"

In „Spione“ beschreibt Beyer im Rahmen einer Familiengeschichte den geheimen Aufbau der deutschen Luftwaffe und den Einsatz der Legion Condor im Spanischen Bürgerkrieg, beginnend mit den Worten: "Manchmal stehe ich eine Weile am Spion und sehe in den Flur, auch wenn ich weiß, ich werde keinen Menschen zu Gesicht bekommen." Ja, und wie ein Spion bewegt sich der Erzähler dann zwischen den Generationen, zwischen den Lebenden und den Toten, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Und in „Flughunde" imaginiert sich Beyer in zwei reale Figuren und lässt sie abwechselnd ihre Geschichte von 1938 bis 1945 erzählen. Die eine ist der Akustiker und Beschallungsspezialist Hermann Karnau, der Wachmann im Berliner Bunker von Adolf Hitler war. Die andere ist die achtjährige Helga, ihres Zeichens älteste Tochter von Joseph Goebbels, die den Alltag ihrer Familie und den Zusammenbruch des Dritten Reichs schildert.

Beyer braucht Zeit für seine Romanfiguren

Einen Namen machte Marcel Beyer sich zunächst als Essayist, Journalist und Lyriker. Er veröffentlichte die Gedichtbände „Walkmännin“ und „Brauwolke“, gab in den neunziger Jahren mit Karl Riha die Reihe "Vergessene Autoren der Moderne" heraus und schrieb zudem Literatur- und Musikkritiken für das Popkulturmagazin „Spex“, wobei ihm die Musikspielarten Industrial und Electronic Body Music die liebsten waren. 1991 erschien dann sein Romandebüt „Menschenfleisch“, eine Art Liebesroman, der keine Handlung hat, aber eben einen zwei Erzählstimmen entwickelten, an haufenweise Sprachdiskursen sich aufreihenden roten Liebesfaden: eine Art Wörterbuch des Begehrens, ein Beleg für die Macht der Sprache über den Körper.

Auffällig ist, dass Beyer sich viel Zeit lässt für seine Romane, was er in einem Interview mit der Wochenzeitung „Freitag“ so erklärt hat: „Bevor ich einen Roman beginne, muss ich nicht nur verführt, sondern überzeugt werden. Ich muss einen Raum ausleuchten wollen, ein Charakter muss mich fesseln, (...) Ich warte immer noch auf eine Figur, auf einen Stoff, in den ich mich so verbeißen kann, dass ich fünf oder acht Jahre damit verbringen will.“

So wird es wohl noch einmal ein wenig dauern, bis nach „Kaltenburg“ wieder ein Roman von Marcel Beyer veröffentlicht wird. Zuletzt erschienen von ihm eben jener Gedichtband „Graphit“, ein Opernlibretto und eine Essaysammlung. Im April kuratierte Beyer im Berliner Haus der Kulturen der Welt die Veranstaltungsreihe „Sprache und Wissen“. Ein Titel, mit dem man letztendlich gut sein gesamtes Werk zusammenfassen könnte.

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