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Kultur: Wider den flüchtigen Blick

Das Handy – ein Halluzinationsraum? Lars Henrik Gass’ Streitschrift „Film und Kunst nach dem Kino“.

Der Eingang zum „Eden“ ist mit Latten vernagelt. Einst ein Kino in der französischen Provinz, wartet der verkommene Palast auf den Abriss oder die Metamorphose zum Shoppingcenter.

Das bluesgetönte Foto in Lars Henrik Gass' Streitschrift „Film und Kunst nach dem Kino“ erinnert an das Pathos vieler Nachrufe auf die große Zeit des Kinos. Doch um Retro-Nostalgie geht es in dem schmalen, handlichen Buch des Leiters der Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen nicht.

Gass zählt zu der Generation, die noch in kleinen Programmkinos und sogar verschuhschachtelten Citykinos Wunderkammern entdeckte. Der 47-jährige Cineast lehnt sich dabei an die französische Tradition der Cinephilie an, vor allem an die Schriften des 1992 früh verstorbenen und hierzulande kaum bekannten Filmkritikers und Filmtheoretikers Serge Daney. Das Kino gilt ihm als eine unvergleichliche architektonische und technologische Erfindung, die viele Fenster zur Welt öffnet. Konträr zu seiner – von den Besitzern kalkulierten – Eigenschaft als kommerzielle Zerstreuungsmaschine lehrt das Kino zu sehen, zu erkennen und zu denken. Der dunkle Raum zwingt uns zu einer Wahrnehmungsweise, die Affekte, Gefühle, Zeit- und Raumordnungen wachruft. So schmiedet das Kino, unabhängig von der Qualität einzelner Filme, seinen Pakt mit dem Publikum: Wir überlassen uns dem Regime der übergroßen bewegten Bilder, gewinnen Tagträume und werden wie durch eine Nabelschnur mit dem Realen außerhalb der Leinwand verbunden.

Was aber, wenn diese Kulturtechnik durch den rasanten Umbruch der neuen Medien und zunehmend mobiler Bildschirme ins Abseits gerät? Gass konstatiert, „dass dem Film das Kino abhandenkommt“ – und das einschneidender, als es Serge Daney in den neunziger Jahren am Beispiel des wachsenden Fernsehkonsums diagnostizierte.

Multiplex-Kinos, 3-D-Filme und Surroundklänge sieht er als bloße Staffage. Tatsächlich nutzen die Elektronikkonzerne und die in ihrem Besitz befindlichen Filmstudios das Kino nur mehr als attraktiven Showroom, um dann mit der Masse verkaufter DVDs und immer mehr Streamingangeboten für Laptop-, iPad- und Handynutzer die eigentliche Kasse zu machen.

In seiner kritischen Prognose konzentriert sich Gass weniger auf wirtschaftliche Aspekte als auf die Brüche in unserem Wahrnehmungsvermögen und stellt dabei die Arten der „Welterschließung“ zur Debatte. Was wird, wenn Filme nicht mehr im Halluzinationsraum Kino gesehen werden, wenn Bilder nur noch klein, bei Licht und flüchtig, kurzatmig, zerstreut und gleichzeitig mit anderen Sinnesreizen wahrzunehmen sind? Was, wenn die Filmindustrie ihre Produkte immer knalliger, personen- und effektzentrierter auflädt, um die Aufmerksamkeit im Heim- und Taschenkino für Momente zu okkupieren? Zugeschüttet von immer mehr Filmen, abgestumpft durch Überreizung, unfähig zur Konzentration und zur Entzifferung ambivalenter, widerständiger Bildgehalte droht die Auslöschung der ästhetischen Erfahrung.

Lars Henrik Gass belässt es jedoch nicht bei dieser Klage. Sondern fragt danach, wie der Wert des Kinos wenigstens in Residualbereichen erhalten werden kann. Dabei schlägt er, gewiss zum Leidwesen von Kleinverleihern und Kinobesitzern, den Filmförderern eine Umorientierung vor: Statt den enttäuschenden Kinovertrieb zu unterstützen, sollten sie vielmehr die kleinen Festivals mit Geldmitteln ausstatten. Diese könnten Filmemacher für ihre Beiträge unmittelbar bezahlen, so dass der Zirkus der Festivalevents ihr Einkommen sichert. Zugleich kritisiert er die Okkupation der Experimentalfilmszene durch Galerien, die Filme zu Sammlerobjekten erklären und den öffentlichen Zugang reglementieren.

Harsche Polemik setzt es auch gegen den Einfluss von Kunstmuseen, die Filme ähnlich verkleinert auf Monitoren darbieten – für den flüchtigen Blick zerstreuter Kunstkonsumenten. Andere Museen, ähnlich den Filmmuseen in Wien, München und Frankfurt am Main, sollten dagegen fest etabliert werden – und in ihrer Raumgestaltung, Projektionstechnik und Programmgestaltung vermitteln, was den Erfahrungsraum Kino auszeichnet. Dazu allerdings braucht es,schreibt Gass, die echte Wertschätzung des audiovisuellen Erbes, mithin eine bessere Kulturpolitik. Claudia Lenssen

Lars-Henrik Gass: Film und Kunst nach dem Kino, Philo Fine Arts, Hamburg 2012, 131 Seiten, 10 Euro

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