zum Hauptinhalt

Kultur: Wie alles aufhörte, wie alles anfing

„Mittendrin“ ist auch dazwischen: Marco Wilms proträtiert fünf Menschen aus Berlin-Mitte

„Irre: keine Ahnung, kein Geld und dann überlegst du, welches Haus nimmst du jetzt!“ Flake alias Christian Lorenz, einer der fünf Ost-Berliner, die Marco Wilms in seinem Dokumentarfilm „Mittendrin“ porträtiert, ist noch immer fasziniert von der Zeit direkt nach der Wende. Berlin war gerade dabei, sich neu zu ordnen. Und viele wollten mitbestimmen, was aus Berlin, aus dem eigenen Stadtteil werden sollte – in diesem Fall aus Berlin-Mitte.

Den tatsächlichen Wandel zeigt der 1966 in Mitte geborene Wilms am Ende des Films: Straßenzüge 1990, Schnitt, dieselben Straßenzüge heute. Erst heruntergekommene, halb eingefallene Häuser, dann pastellfarbene, stuckverzierte Fassaden mit begrünten Balkonen. Das ist nicht neu – wenn auch in diesem scharfen Kontrast sehr wirkungsvoll –, und auch nicht das, was Wilms eigentlich interessiert. Es ist das Dazwischen, das Dahinter: die Vision von fünf unterschiedlichen Charakteren Anfang der Neunziger. Wilms filmt sie dort, wo alles angefangen hat oder wo sie schließlich ankamen: im Tacheles, in der Wohnbaugesellschaft Mitte (WBM), im Jugendcafé in der Auguststraße, in der Schaubühne.

André Greiner-Pohl, Sänger der in der DDR verbotenen Band „Freygang“, steht in den verrauchten Räumen des „Eimer“. Mit anderen Musikern hatte er 1990 das Haus in der Rosenthalerstraße besetzt, die Fenster vernagelt, Probenräume eingerichtet. Anfang 2003 wurde das Kulturhaus geschlossen. Grund für André, das „Geheimnis“ des Hauses zu lüften: Mit einem Vorschlaghammer haut er ein Loch in die Wand. „Ist echt alles noch da,“ staunt er auf Berlinerisch und zeigt, was er vor 13 Jahren eingemauert hatte: Eine Wodkaflasche, eine DDR-Flagge, eine alte Platte. Ein bisschen melancholisch wird der Rocker – Lederjacke, schulterlanges, krauses Haar – da schon.

Jutta Weitz sitzt in ihrem Büro in der WBG. Hinter ihr, auf der Fensterbank stehen Palmen und Kakteen, seit 1990 ist sie für die Wohnhäuser in Mitte zuständig. Sie konnte mit entscheiden, ob für einen Imbiss, einen Frisör oder ein Kultuprojekt Räume bewilligt wurden, setzte sich nicht selten gegen Skeptiker durch. Szenenwechsel: Mathias Ambellan steht auf dem Dach seines Hauses, das er 1989 besetzte und in dem er seinen Traum realisierte: den Jugendclub „No Way Alta“. Es gibt ihn immer noch. Und das auch, weil Jutta sich für ihn stark machte. Dann: Jochen Sandig, der 1989 aus Schwaben nach Berlin kam, ins Tacheles zog, Fördergelder beschaffte, die Ruine zum internationalen Kulturhaus machte. „Man wurde von der Energie der Stadt angesogen“, denkt er zurück. Apropos Tacheles: Flake baute dort die erste Theaterbühne, sang mit der Ost-Punk-Band „Feeling B“ und geht bis heute nicht in den Westen – nicht mal zum Bier trinken. Inzwischen ist er Keyborder bei Rammstein, Sandig künstlerischer Leiter an der Schaubühne – nicht ohne Heimweh nach Mitte.

Zwischen die Interviews streut Wilms Originalbilder von damals: Rita Süssmuth, die das Tacheles besucht, das legendäre Konzert von „Freygang“ im „Eimer“, das ihnen ihre einzige DDR-Platte ermöglichte, Räumungen durch die Polizei. Und von heute: ein Rammstein-Konzert mit Flake, wie er im Schlauchboot über die Hände der Zuschauer gleitet, Premieren-Empfang an der Schaubühne. Zur Ruhe kommt der Film, wenn Wilms, der noch im 1989 besetzten Haus lebt, zu chilliger Musik Mitte von oben filmt, mit der Kamera nachts durch die Straßen fährt, wo sich Designerläden neben Cocktailbars zeigen.

Flake sitzt am Tisch im „Eimer“: „Wir dachten echt, mit ein paar Cafés was verändern zu können.“ Resigniert klingt er dabei nicht. Am Anfang kann man es lesen: „Die schönste Zeit im Leben ist die, wenn die alte Macht gegangen und die neue noch nicht da ist." Also: mittendrin.

Acud, fsk, Hackesche Höfe und Nickelodeon

Franziska Richter

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false