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Kultur: Wie Berlins Philharmoniker einen neuen Intendanten suchen

Als Simon Rattle im Juni zum Nachfolger des 2002 scheidenden Philharmoniker-Chefdirigenten Claudio Abbado gewählt wurde, war der Jubel einstimmig. Und er galt nicht nur dem Votum, sondern auch der Art, wie die Entscheiung zustande kam: Das basisdemokratisch organisierte Orchester nämlich, das als einziges der Welt ganz allein über seinen künstlerischen Leiter bestimmen darf, hatte nicht etwa nach dem Maestro mit dem bestdotierten Plattenvertrag geforscht, sondern nach einem, der sie bei der Realisierung ihrer selbst gesteckten Zukunftspläne am besten unterstützen kann.

Als Simon Rattle im Juni zum Nachfolger des 2002 scheidenden Philharmoniker-Chefdirigenten Claudio Abbado gewählt wurde, war der Jubel einstimmig. Und er galt nicht nur dem Votum, sondern auch der Art, wie die Entscheiung zustande kam: Das basisdemokratisch organisierte Orchester nämlich, das als einziges der Welt ganz allein über seinen künstlerischen Leiter bestimmen darf, hatte nicht etwa nach dem Maestro mit dem bestdotierten Plattenvertrag geforscht, sondern nach einem, der sie bei der Realisierung ihrer selbst gesteckten Zukunftspläne am besten unterstützen kann. Erst über Inhalte zu reden und dann über Personen - diese Forderung wird im Kulturbereich viel zu selten in die Tat umgesetzt. Zumeist ist das Karrousel mit den üblichen Verdächtigen bereits in voller Rotation, bevor überhaupt die Perspektiven klar sind.

Den zweiten Schritt nicht vor dem ersten zu tun, ist darum auch die Devise, wenn es nun um die Benennung eines neuen Intendanten geht, der ab 2001, also ein Jahr vor dem Amtsantritt Simon Rattle, das Terrain für einen Neustart in der Philharmonie bereiten soll. "Erst müssen wir unsere angestrebte Position im internationalen Wettbewerb definieren und uns darüber klar werden, welche Rolle die Philharmonie künftig innerhalb der Berliner Kulturlandschaft spielen will", erklärt der Orchestervorstand und Kontrabassist Peter Riegelbauer. Denn so glänzend das Orchester derzeit künstlerisch mit einem Chefdirigenten im Zenit seiner Schaffenskraft, Claudio Abbado, und seinem auratischen Nachfolger Rattle dasteht, so unklar schien in letzter Zeit, wie sich das Orchester jenseits des Konzertprogramme die Zukunft vorstellt.

Nach der überraschenden Ankündigung von Intendant Elmar Weingarten, für eine zweite Amtszeit nicht zur Verfügung zu stehen, war es im September zu Spekulationen um Grabenkämpfe hinter den Philharmoniker-Kulissen gekommen. Als dann auch noch gegen Weingartens Willen vertrauliche Bemerkungen zu den Gründen seines Rücktritts an die Öffentlichkeit drangen, machten Schlagworte wie "Werteverfall" und Kommerzialisierung die Runde - auch angesichts einer Schallplattenaufnahme mit Udo Jürgens und einem geplanten Auftritt des Orchesters mit der Rockgruppe Scorpions bei der Expo2000. "Wir erleben diese Monate tatsächlich als eine historisch entscheidende Phase.", bestätigt Riegelbauer, "Das Orchester ist in Umbruchstimmung - jetzt liegt es an uns, daraus eine Aufbruchsstimmung zu machen. Die Frage, ob wir bei der Expo neben unserem Konzert mit Messiaens Turangalila-Sinfonie auch noch ein Cross-Over-Experiment machen, ist ein Klacks gegen die Herausforderungen, vor denen wir stehen."

Dass Simon Rattle solche interdisziplinären Projekte in seiner Amtszeit zur Normalität machen wird, ist so gut wie sicher. Ebenso, dass sich heute selbst das beste Orchester der Welt um sein Nachwuchspublikum kümmern muss. Eine erste Testphase, in der Gymnasialschul-Klassen zu kommentierten Generalprobenbesuchen eingeladen wurden, um den Musentempel erst einmal ohne den Konzertritus- und Kleiderordnungsstress einer Abendveranstaltung kennenzulernen, ist bereits erfolgreich verlaufen. Als nächstes plant der Orchestervorstand einen Tag der offenen Tür für Jugendliche, bei dem sich Berliner Schulorchester auf dem Philharmonie-Podium präsentieren dürfen.

Viel größere Sorgen macht Peter Riegelbauer dagegen die Tatsache, dass den Philharmonikern immer mehr Musiker "weglaufen". Unglaublich, aber wahr: In dem Weltspitzenorchester sind derzeit 14 Planstellen unbesetzt, davon allein sieben Solo-Positionen. Das führt in Erkältuns-Hochzeiten dann auch schon mal dazu, dass mehr unbekannte als vertraute Gesichter auf dem Podium sitzen, wie zum Beispiel beim letzten Programm mit Nikolaus Harnoncourt. Der Qualität ist das nicht unbedingt zuträglich, gibt der Orchestervorstand offen zu: "Aber wir müssen derzeit leider einen neuen Trend beobachten. Immer mehr Spitzenkräfte wandern an die Musikhochschulen ab, weil sie als Professoren nicht nur bei relativ geringer Lehrverpflichtung sehr gut bezahlt werden und viel Zeit für Solo- und Kammermusikauftritt haben, sondern auch den Stress los sind, den die Orchesterarbeit zwingend bedeutet."

Im Gegensatz zu anderen Orchestern, denen man schon mal einen schlechten Tag zugesteht, akzeptieren weder Presse noch Publikum keinen einzigen Routine-Abend pro Saison bei den Philharmonikern. Das schlaucht. Warum, fragen sich daher viele Musiker, soll ich mir das antun, wenn ich mir bei einem "normalen" Rundfunkorchester inzwischen dasselbe Geld im Monat leichter erspielen kann? "Die Risikobereitschaft des Spitzennachwuchses hat nachgelassen. Während es früher üblich war, dass Solisten großer Orchester zu den Philharmonikern wechselten, um bei uns in der Tutti-Gruppe zu spielen, steigen viele Hochschulabsolventen heute lieber in der oberen Mittelklasse ein und bleiben dort hängen, weil sie keine Lust haben, sich der zweijährigen Probezeit bei den Philharmonikern zu unterwerfen." Denn die überstehen in der Tat rund 30 Prozent der Bewerber nicht.

Abrücken von der knallharten Aufnahmeprüfung wird das Orchester trotz aller Rekrutierungsprobleme aber auf keinen Fall, betont Riegelbauer: "Der einzige Punkt, in dem wir absolut unflexibel sind, ist die Qualität. Aber wir müssen nach Wegen suchen, wie wir das Berliner Philharmonischen Orchester wieder zum Traumziel der Allerbesten machen können."

Dabei denkt der 1956 geborene Kontrabassist, der seit fast zwanzig Jahren dabei ist, nicht nur ans Geld. Schon eine größere Handlungsfreiheit des bislang als nachgeordnete Senatsbehörde organisierten Orchesters könnte die Attraktivität steigern: "Man müsste zum Beispiel prüfen, ob sich das Orchester und die beiden Säle der Philharmonie nicht in eine Stifung umwandeln lassen. So könnten wir sofort viel eigenverantwortlicher agieren", denkt Riegelbauer laut nach. "Dann ließe sich vielleicht endlich das Projekt verwirklichen, die Philharmonie vom tagsüber toten Konzertsaal zum echten, durchgehend geöffneten Kommunikationszentrum zu entwickeln. Mit dem Potsdamer Platz als Nachbarn wären wir dann das Kulturforum, von dem der Architekt Hans Scharoun immer geträumt hat." Und auch über die Bespielung der Säle jenseits der Philharmoniker-Konzerte muss neu nachgedacht werden, findet er. "Es kann doch nicht sein, dass, wenn wir auf Tournee sind, in dem Haus ein Veranstaltungsmix geboten wird, der kaum das Niveau von Ingolstadt erreicht."

Da kommen echte Herausforderungen auf den neuen Intendanten zu, der übrigens für den Orchestervorstand nicht unbedingt aus dem Klassikmilieu stammen muss. Auch die Wahl eines Quereinstieger, zum Beispiel aus der Wirtschaft, scheint nicht ausgeschlossen - schließlich denkt Simon Rattle selber schon sehr dramaturgisch und programmatisch innovativ. Da könnte die Zusammenarbeit mit einem Manager durchaus zu spannenden Impulsen führen.

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