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Kultur: Wie der Flug eines Pfeils

Musik und Zeit Überlegungen anläßlich eines Zeit-Symposions auf dem 71.Bach-Fest in Freiburg, mit Hans-Georg Gadamer, Friedrich Cramer, Peter Sloterdijk, Wolfgang Rihm VON SIMONE MAHRENHOLZAnfang und Ende: das sind die anfälligsten Momente, wo man wie ein Tier bei der Häutung den stärksten Anfeindungen ausgeliefert ist.

Musik und Zeit Überlegungen anläßlich eines Zeit-Symposions auf dem 71.Bach-Fest in Freiburg, mit Hans-Georg Gadamer, Friedrich Cramer, Peter Sloterdijk, Wolfgang Rihm VON SIMONE MAHRENHOLZ

Anfang und Ende: das sind die anfälligsten Momente, wo man wie ein Tier bei der Häutung den stärksten Anfeindungen ausgeliefert ist.Zu beginnen, das ist das Schwierigste, und das Schließen ist fast genauso schwierig.Wenn ich in der Komposition bin, bin ich gerettet. Wolfgang Rihm

In jeder Aufführung gehe es für den Zuschauer darum, "durch ein Loch in die eigene Biographie zu fallen", sagte George Tabori einmal.Zwar sprach er vom Theater.Doch berührte er damit nicht vielmehr das Geheimnis der Musik? Auf dem diesjährigen Bach-Fest in Freiburg galt es, dem zeitlosen Rätsel Musik mit einem Symposion zu "Musik und Zeit" näherzukommen.Was ist das für eine Zeit in der Musik? Verläuft sie gleichmäßig wie eine Linie? Ist es also dieselbe Zeit wie beim Bügeln oder beim Waldspaziergang? Oder verläuft sie zyklisch, in lauter Kreisen - wie der Atem oder der Herzschlag? Zugleich vorwärts und kreisförmig: wie eine Spirale? Bleibt Zeit beim Musikhören gar irgendwie stehen? Nicht nur Musikwissenschaftler, auch der Physiker Friedrich Cramer, die Philosophen Gadamer und Peter Sloterdijk und der Komponist Wolfgang Rihm wurden in Freiburg zu Wort gebeten.Daß die Sache vertrackt ist, merkte man schon daran, daß kaum ein Redner das Oberthema mehr als am Rande behandelte.Dabei hat Bach in seinen Kompositionen gern die beklagenswerteste Eigenschaft der Zeit herausgefordert: Zeit fließt nicht zurück, sie scheint irreversibel.Bach komponierte nun nicht nur Melodien rückwärts, er verkehrte die Tonfolgen auch im Raum: die Bewegung nach unten wird eine nach oben und umgekehrt."Krebse" und "Spiegelungen" durchziehen Bachs Kanons, und derlei Zeit- und Raumexperimente fügen sich dem Ohr aufs Harmonischste.Für Bach selbst waren seine Erkundungen "Einsicht in die Tiefen der Weltweisheit", wie der Musikwissenschaftler Christoph Wolff ausführte, eine philosophische Erforschung des harmonisch Möglichen. Wenn bei Bach nun aber Tonfolgen vorwärts wie rückwärts verlaufen: hat er die Zeit dann verkehrt? Etwas fließt rückwärts, aber es tut das wiederum im Fortfluß.Schon sind mindestens zwei "Zeiten" im Spiel.Und erinnern Sie sich an eigene Klavierstunden: Musik organisiert sich meist in Takten.Eins - zwei - drei - vier Schläge und von vorn.Diese Takte gruppieren sich wieder in Zyklen zu viert oder acht - in den Sinfonien der Klassik wie im Blues-Schema des Jazz und Rock.Einerseits fließt Musik also vorwärts: das Ergebnis steht in Minuten auf der CD.Zugleich durchzieht sie lauter kleine Takt-Zyklen: man kann ununterbrochen bis drei oder vier zählen. Eben diese zwei grundverschiedenen Zeiten, so Friedrich Kramer in seinem Buch "Der Zeitbaum", sind in der Natur allgegenwärtig.Sie gehen gleichsam durch uns hindurch.Da ist einerseits die linear verlaufende Zeit, wie der Pflug eines Pfeils: von der Zeugung bis zum Tod.Oder von der Entstehung des Systems unserer Sonne bis zu deren einstigem Kollaps per Aufblähung zum weißen Riesen samt Schrumpfen zum roten Zwerg.In dessen Asche dann sowohl die Erde klumpt als auch skandalöserweise alles von Bach. Gleichzeitig verläuft nun Ihr Organismus, wie die gesamte Natur, auch zyklisch.Wir müssen schlafen, atmen, essen, das Herz muß rhythmisch schlagen.Auch ist die Ausdehnung unserer Gattung auf dem Zeitpfeil nur gesichert, solange sie sich in lauter Generationen-Kreisläufe teilt, welche die Fackel Leben weiterreichen.Unser Sonnensystem wiederum saust zwar kollektiv durchs All.Aber die Bestandteile untereinander kreisen elliptisch vor sich hin.Bei Cramer heißen diese systemsichernden Zyklen die "reversible Zeit", und die lineare, systemverändernde Zeit nennt er die irreversible Zeit.Beide durchziehen die Musik: die Zyklen über die Takte und Taktgruppen und die Linie im Fluß von Anfang bis Ende. Wie Cramer in Freiburg betonte, geraten diese geordneten Kreisbahnen alle irgendwann in chaotische Zustände: die stabilen Strukturen sind eigentlich nur Warteschleifen.Kleine Störungen können zu einem Sprung aus dem Zyklus führen.Ein Stern stürzt "ab".Genauer: er implodiert.Oder eine Psyche stürzt ab: sie gleitet in eine Depression - welche immer mit einer Störung des Zeiterlebens einhergeht.Wenn so eine Zyklus-Organisation endet, ist ein Zeitsprung, ein "Chaos-Ordnung-Übergang" erreicht.So wird plötzlich klar, warum sich der Komponist Wolfgang Rihm, wie er sagt, beim Komponieren von Anfängen und Schlüssen immer bedroht, ausgesetzt fühlt.Beginn und Ende einer Musik sind Übergänge in neue Zeit-Zyklen.Sind ein delikates Verlassen der Warteschleife.Es sind Übergänge, die gelingen oder mißlingen - Triumph oder Katastrophe.Solange das Stück dauert, ist man gerettet.Da macht es neuen Sinn, wenn es oft in jüdischer Literatur von jemandem heißt, er erzähle Geschichten, "um den Tod hinzuhalten".Der Erzähler - er zählt.Er ordnet Zeit.Das Innere einer Geschichte wie einer Musik bewahrt vor dem Zeit-Sprung aus dem Zyklus: den chaotischen Turbulenzen, die das System der Zerstörung oder dem Neuanfang preisgeben. Schon zeigen sich in der Musik also Zeit-Strukturen, die unsere Existenz unmittelbar angehen.Schon zeichnet sich ab, inwiefern in der Musik das Schöne da anfängt, wo das Schreckliche gerade noch einmal abgebogen ist.Und schon wird klar, warum wir Musik zuweilen mit einer Aufmerksamkeit hören, als hinge vom Erfassen dieser Schönheit unser Leben ab.Und solche Sprünge aus einer zyklischen Zeit-Ordnung hinaus beenden natürlich nicht nur etwas, sie begründen auch Neues.Der Orgasmus ist ein perfektes Beispiel dafür: ein Sprung von einem zyklischen Rhythmus in einen neuen, energetisch vollkommen anderen Zustand. Als wie nah in der Musik Ordnung und Chaos - also göttliche Extase und drohendes Verderben empfunden werden, zeigte Peter Sloterdijk anhand von Homers Mythos von den Sirenen.Odysseus läßt sich an den Schiffsmast fesseln, um den Sirenengesang zwar zu hören, aber ihnen und ihrer todbringenden Insel nicht zu verfallen.Sloterdijk nahm diesen Mythos in Freiburg zum Ausgangspunkt für eine gleichsam musiko-logische Frage: wieso erreicht die Musik jeden? Die Sirenen, an denen Odysseus vorbeisegelt, sie singen ihm vom Schicksal der Seinen, sie versprechen ihm Weisheit, sie preisen seinen Ruhm - und Odysseus bebt.Wieso aber treffen die Sirenen für jeden Vorbeireisenden den passenden Ton? Und warum verfallen ihre Opfer auf der Insel so rapide? Berührt ist hier, so Sloterdijk, das "Rätsel der Erreichbarkeit".Das Subjekt wird eigentlich durch Widerstand geboren.Subjektsein heißt, Reden widerstehen können.Wie schaffen es die Sirenen, daß das Ohr sich entriegelt? Sloterdijks Antwort: Sie singen vom Ort des Hörenden aus.Sie komponieren Lieder im Ohr des Anderen.Daher auch haben die Verführenden keine Seele.Sie singen "die schlechthin von mir zu singende Melodie, die mich vergrößert, erregt und wehrlos macht." Sirenenmusik schafft es also, dem Subjekt beim Ausdruck seines Begehrens um einige Schritte vorauszusein.Der Hörer hört seine eigene Hymne wie eine Laudatio aus dem Jenseits. Ein und dieselbe Musik erreicht also alle, weil sie stets vom Zentrum des Hörenden aus klingt.Und hier liegt die Drohung des Verfallens.Wenn Subjektsein Widerstand leisten heißt, dann ist ein Verfallen das Ende des Subjekts.In diesem Sinne fallen die Hörenden wie durch ein Loch in ihre eigene Biographie, und sie verenden dort.Subjekt bleiben hieße hier: Widerstand leisten den Klängen der Verführung ins riesig vergrößerte Selbst.Ein sich selbst verfallenes Ich ist so leer, daß man darin wie auf der Sireneninsel an Auszehrung stirbt. Nun verenden wir Heutigen an Musik nicht, auch wenn ihr Genuß zuweilen in der "near-death"-Erfahrung der Selbstaufblähung samt Kollaps besteht.Hegel, dieses Jahr in Freiburg abwesend, erklärt dieses Standhalten mit der musikalischen Zeit, genauer: mit der metrischen Zeit des Taktes.Zeit und Subjekt, schreibt er, sind dasselbe leere Hinfließen.Dagegen steht das immer wieder neu hergestellte "Jetzt" und das aktive "Ich".Der musikalische Takt ist es, der in den Zeit- und Selbstfluß Einschnitte macht "und das Ich, welches seiner selbst sich erinnert und sich darin wiederfindet, von dem bloßen Außersichkommen und Verändern befreit." Da ist sie wieder, Cramers systemerhaltende reversible Zeit. Und falls Hegel recht hat, so gilt es, im Umgang mit den heutigen Sirenen und ihren Versuchungen zuzusehen, daß die Begegnung taktvoll verläuft.

SIMONE MAHRENHOLZ

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