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Kolumne "Spiegelstrich": Wie die Wirklichkeit verdreht wird
Die Videos der Aktion #allesdichtmachen sind denkfaul, empathiefrei und snobistisch. Besser ist es, die Aufmerksamkeit auf echte Helden der Krise zu richten.
Stand:
Klaus Brinkbäumer ist Programmdirektor des Mitteldeutschen Rundfunks in Leipzig. Sie erreichen ihn unter Klaus.Brinkbaeumer@extern.tagesspiegel.de, auf Twitter unter @Brinkbaeumer.
Mein Wort der Woche: „verakten". Die Kanzlerin sagt’s im Wirecard-Untersuchungsausschuss und meint den Umgang mit Vorgängen und schon auch Menschen, die sie enttäuscht haben: Eine lästige Angelegenheit wird zur Akte, der dazugehörende Mensch auch, und danach sind beide abgelegt, nicht aber vergessen.
Der Jubel von rechts war erwartbar
Die Filmchen, erstens: Die 53 Videos der Aktion #allesdichtmachen sind nicht schlimm, bloß denkfaul und empathiefrei, darum snobistisch. Wie die Filme rechtsaußen gefeiert werden würden, das hätten Heike Makatsch und Jan-Josef Liefers oder deren Agenturen vorhersehen können. Ein bisschen destruktiv sind die Videos, weil sie die Verdrehung der Wirklichkeit weitertreiben: Die These, dass in einem unterwürfigen Deutschland die Regierung nicht mehr kritisiert werde, dass folglich jene, die sich seit 15 Monaten diszipliniert an Regeln halten, immer noch mehr Unterwerfung ersehnten, denunziert die Anständigen und bestärkt jene, die Gemeinsinn sogar und vor allem inmitten einer Krise nicht verstehen wollen.
Im Regenponcho gegen die Pandemie
Ich rufe lieber eine der vielen Heldinnen dieser Monate an, Andrea Müller-Scheven, seit 35 Jahren Ärztin. Im Februar 2020, als sie gerade mit ihrem Ehemann durch Asien reiste, begann die Krise; und als Müller-Scheven zurück in ihrer Praxis im Westen Hamburgs war und es keine Schutzkleidung gab, bestellte sie 120 Regenponchos für 80 Cent das Stück und ging ans Werk, „ganzkörpervermummt“, wie sie sagt; bald konnte sie professionelle Visiere und Kittel und FFP2-Masken bestellen und machte weiter.
Und was für ein Jahr es war.
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All die Menschen, die so krank waren wie immer: Krebs, Depression, Demenz, Corona kam ja einfach hinzu. „So viele Menschen, die nicht auf der Sonnenseite stehen“, sagt Andrea Müller-Scheven, „ich könnte jetzt, beim Erzählen, anfangen zu weinen.“ Auch ihr Vater starb, viel zu einsam natürlich, und Müller-Scheven und ihre Kolleginnen und Kollegen machten weiter, testeten, behandelten, erklärten. Andrea Müller-Scheven betreute zusätzlich eine Station in einem Pflegeheim, allein dort waren zehn Patienten infiziert und sieben von ihnen starben.
Wir müssen lernen, wieder geduldig zu werden
Es gibt einiges, das die Ärztin nicht versteht. „Eigentlich lernen wir gerade alle wieder, was Warten und Geduld bedeuten“, sagt sie, „so wie wir früher auf einen Brief gewartet haben, wissen Sie noch?" Sie selbst wartete 1981 auf ein Telegramm, aus Sri Lanka, es ging um einen Mann, sollte sie hinfliegen oder doch nicht, sie muss lachen. Das Telegramm kam, sie flog, was sie aber erzählen wollte: Heute sind da so viele Menschen, die sich nicht zusammenreißen können. Die nach Ischgl reisen, danach in der Praxis vorbeikommen, „machen Sie schnell einen Abstrich“ rufen, um zum Golfplatz weiterfahren zu können. Es seien nicht wenige, sagt Müller-Scheven, vor wenigen Tagen sei da wieder einer ohne Maske gewesen, der umso empörter der Ärztin mit einer Anzeige wegen unterlassener Hilfeleistung gedroht habe.
Anderen helfen, sich selbst retten
Und da sind die großen Linien, warum nur wurden die großen Linien auf diese Weise gezogen? Wieso gab es keine Task Force mit Apothekern und Ärztinnen, wieso gab es nicht „einen zwei Monate dauernden ganz strammen Lockdown und zugleich ganz viel Impfstoff“? Die Ärztin weiß das, es ist ihr Fachgebiet: Impfstoff muss neun Monate vor dem Einsatz bestellt werden, in keinesfalls zu niedriger Menge. „Diese Unentschlossenheit“, beklagt sie, „dieses Zerfasern, und das greift auf uns alle über, nicht wahr?“
Wer anderen helfe, rette sich selbst, schreibt die chinesische Autorin Fang Fang in „Wuhan Diary“. Die Filmchen, zweitens: Die Schauspielerin Sandra Hüller hat dazu alles Nötige gesagt: „Leute. Bitte.“ Ich empfehle Veraktung.
Klaus Brinbäumer
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