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Kultur: Wie in einem Spiegel

Benjamin Lebert, das Wunderkind der Popliteratur, ist ein schwarzer Romantiker geworden: Heute erscheint sein neuer Roman „Der Vogel ist ein Rabe“

„The Child is father of the Man“, das Kind ist Vater des Mannes, besser: des Menschen. So lautet eine Zeile in einem berühmten Gedicht des englischen Romantikers William Wordsworth. 1802 geschrieben, löste seine Metaphysik der Kindlichkeit auf dem Hintergrund des europäischen Rousseauismus eine kulturelle Mode aus, die in Deutschland bis ins Biedermeier wirken sollte: Über das Medium der Künste sollte die Gesellschaft vom Kind lernen, von seiner Ursprünglichkeit und Unverbildetheit diesseits der sozialen Deformationen. Knapp dreißig Jahre zuvor war dagegen der junge Erwachsene in Goethes „Werther“ der paradigmatische Typus, der einen Boom der adoleszenten Literatur hervorrief. Dieser Boom ist durchaus mit dem zu vergleichen, was in den Neunzigerjahren hier zu Lande als Popliteratur Furore machte.

Benjamin Leberts Bestseller „Crazy“, mit nur 16 Jahren geschrieben und 1999 veröffentlicht, stellte nicht nur deshalb einen Höhepunkt der zahlreichen Produktionen von Jung- und Jüngstschriftstellern dar, weil er ein eminentes literarisches Talent verriet. Das Besondere an Leberts Internatsgeschichte, die inzwischen in 33 Sprachen übersetzt ist und von Hans-Christian Schmid erfolgreich verfilmt wurde, war, dass die pubertierenden Rüpel aus „Crazy“ gerade nicht in die Welt der jungen Erwachsenen eintreten wollten. Zwar sehen die hormongebeutelten Protagonisten „vor lauter Titten die Realität nicht mehr“. Aber sie sind sich in einem sicher: dass sie ihren kindlichen Blick auf die Welt nicht aufgeben, sondern verinnerlichen wollen. Man freut sich zwar über die neuen genitalen Möglichkeiten. Aber zwischen Sauf- und Sexorgien im niederbayerischen Internat wird unermüdlich philosophiert. Mit dem Resultat, dass Kindheit nicht Mangel, sondern Fülle bedeutet, die bewahrt werden muss, gerade wenn die Geschlechtsteile schockierend plötzlich in Bewegung geraten. Und dass kindliches Staunen die Bedingung des Denkens ist. Benjamin Lebert schaffte das große Kunststück, diese Konstellation nie peinlich werden zu lassen.

Heute erscheint das zweite Buch des inzwischen 21-jährigen Autors, eine erstaunlich streng konstruierte Novelle von gut 120 Seiten mit dem Titel „Der Vogel ist ein Rabe“. Der Ich-Erzähler Paul lernt im Schlafwagenabteil im Nachtzug von München nach Berlin einen Gleichaltrigen kennen, Henry, mit dem sich, Zugreise-typisch, sofort Vertrautheit einstellt. Die Rahmenhandlung des Textes ist diese eine Nacht im Intercity. Henry und Paul erzählen sich in einer quasi-therapeutischen Konstellation die Schlüsselszenen ihrer Biografien. Lebert schafft es, mit nur wenigen Sätzen eine düstere Spannung zu schaffen. „Die Dunkelheit beleuchtet bei mir immer die schrecklichen Dinge“, sagt der Mitreisende beim Blick aus dem Fenster in die vorüberziehende Nacht.

Wieder entwickeln sich weit verzweigte dialogische Reflexionen zu Gott und der Welt. Man denkt unwillkürlich an die berühmte Episode aus Thomas Manns „Felix Krull“, wo Felix und Professor Kuckuck sich während der Zugreise nach Lissabon über den Urgrund des Seins unterhalten. Dort ist die zivilisationsbedingte Peinlichkeit solcher Fragen durch Ironie kunstvoll abgepuffert. Bei Lebert nicht. Aber es funktioniert! Man kann angesichts des Räsonierens von Leberts Figuren nicht von literarischer Naivität sprechen, weil die Schreibtechnik, mit der der Autor diese metaphysischen Gesprächskaskaden ein- und durchführt, für einen 21-Jährigen unglaublich raffiniert ist. Leberts Beharren auf den im Grunde kindlichen Reflexionen, die ihm sein Entdecker Maxim Biller nach dem Erscheinen von „Crazy“ sogar öffentlich auszureden versuchte, muss man als literarische, wahrscheinlich sogar als menschliche Stärke verstehen. Es ist unprätentiös und ehrlich.

Man hört, dass man in Creative writing-Seminaren schon im Grundstudium die Maxime ausgibt, bloß keine (Lacan’schen) Spiegel in die Texte einzubauen. Bei Benjamin Lebert ist man froh, dass er es trotzdem tut: „Von der Landschaft draußen sieht man gar nichts. Man sieht nur sich selbst. Aber wenn ich mich selbst im Spiegelbild ansehe, schaue ich in eine viel tiefere Dunkelheit als in die, die draußen vor den Fenstern ist.“

Gut scholastische Thesen werden von Lebert mit leichter, aber keinesfalls unbedachter Hand hingestreut: „,Gott kann nur durch das Universum erkennen, was oder wer er ist. Und deshalb hat er es erschaffen.‘ ,Wenn das wahr ist, heißt das, dass Gott so ist wie wir?‘ ,Ja.‘ ,Genauso hilflos?‘ ,Vielleicht ist er genauso hilflos.‘ Schweigen tritt ein. ,Ist Gott einsam?‘, fragt er nach einer Weile.“ Ende des Kapitels. Und der Leser macht ein Häkchen unter diese Sätze, wie es die äußerst pragmatische Definition von guter Literatur aus dem ersten Roman „Crazy“ vorgibt: Gute Literatur sei eine Ansammlung von Sätzen, die stimmen, und zwar so, dass man unter jeden Satz ein Häkchen machen könne.

Benjamin Lebert hat literarisch viel dazugelernt seit seinem letzen Buch. Er experimentiert mit verschiedenen Perspektiven, Rückblenden, ineinander verschachtelten Zeitebenen. Fast fließt der lange Dialog mit dem inneren Monolog des Ich-Erzählers zusammen und lässt an die Möglichkeit denken, dass es überhaupt nur eine Person ist, die mit sich ins Selbstgespräch kommt, sich dialogisch aufspaltet.

Nach innen geht der geheimnisvolle Weg, und innen sind viele Stimmen zu hören. Und innen liegt bisweilen ein Toter. Leberts Moralismus der zu bewahrenden Kindlichkeit im Erwachsensein ist schon deshalb nicht naiv, weil er das Böse nicht ausblendet. Wenn er jedoch einen der Protagonisten zum Mörder werden lässt, so ist das mit Sicherheit zu grell, schmeckt zu sehr nach Fernsehspiel-Drehbuch. Die Nonchalance, mit der Lebert sonst das Grelle literarisch herunterzudimmen vermag und so zum Salinger-haft coolen Erzählen findet, fehlt diesmal. Nicht im Detail des Textes – da ist sie wunderbar da. Jedoch in der Konstruktion, mit der das neue Buch letztlich steht und fällt. Aber Lebert ist, das merkt man dem Buch an (und das ist das Wichtigste), auf einem literarischen Weg, den wir gespannt verfolgen werden.

Übrigens, das Gedicht von Wordsworth beginnt mit den Zeilen: „My heart leaps up when I behold / A rainbow in the sky ...“

Benjamin Lebert: Der Vogel ist ein Rabe. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2003. 127 S., 9,90 €.

Marius Meller

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