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Kultur: Wie Teddie sich einmal im Schrank versteckte

Von der Dignität der Anekdote: Humor bei Adorno / Von Eckhard Henscheid

Anlässlich der letzten GroßAdornofeier, der damals noch etwas kleineren zum 25. Todestag am 6. August 1994, erkundigte sich das FAZ-Feuilleton bei Adorno-Nahestehenden nach signifikant Anekdotischem zur Person des mittlerweile bzw. noch immer Halbentrückten. Wohl weil ich zehn Jahre vorher schon eine Kollektion (halb-)erfundener Anekdoten rund um die Horkheimer, Adorno und Consortes zu Papier gebracht hatte; vielleicht auch, weil mich gleichzeitig die Zeitschrift „Merkur“ etwas allzu generös und verpflichtend als „legitimen Erben Adornos“ gewürdigt hatte, wurde auch ich gefragt und brachte die folgende (Wahr-)Anekdote in Erinnerung, hier durch den Mund meiner absolut preußisch-wahrheitsliebenden Frau Regina:

„Ich stand an der Bockenheimer Warte an einem Zebrastreifen und wartete auf Grün. Links neben mir wartete in einer Reihe ein kleiner älterer Herr – mit Schrecken erkannte ich in ihm den Professor Adorno (ob er gemerkt hatte, dass ich seine Vorlesung übers Fernsehen hochnäsig mied?), eine ebenfalls ältere Frau mit kurzen grauen Haaren in seiner Begleitung; und ganz außen, für den Professor fast verdeckt, eine hübsche langhaarige Blondine. Da plötzlich hob der Professor den Stock oder Regenschirm, den er bei sich führte, und schob seine Gattin (denn das war sie) sanft, aber auch energisch etwas zurück, eindeutig damit er die schöne Person besser sehen könnte. Die Gattin ließ es, zweifellos wissend, geschehen.“

Ein älterer Herr am Zebrastreifen

Ich hatte das Material dieser Anekdote selber schon vorher für meine Sammlung zu einem verwandten Exempel geschmiedet, um hier wie dort mit der recht bekannten Adorno-Weisheit zu kommentieren: „Nur wenn das, was ist, sich ändern läßt, ist das, was ist, nicht alles“ – und sei’s ändern durch einen die repressive Feminitätssperre emanzipatorisch durchbrechenden Regenschirm. Allein, Texte solcher Art konnten, zumal er darin selber als Hansdampf vom Dienst vorkommt, einem schon mal gar nicht gefallen: Jürgen Habermas. Die tiefe Besorgnis, derart werde das von ihm seit 1969 quasi solistisch verweste Erbe der sog. Frankfurter Schule alias Kritischen Theorie ins Folkloristische und nämlich verdammenswerte Humoristische überführt und verwässert, – sie bewog den wohl musenfernsten und zumal humorresistentesten Vertreter eben dieser Schule, wenn schon nicht des gesamten geistigen Deutschland mit Verspätung, 1995, nämlich im Zuge einer wuchernd-mäandernden Rezension des Adorno-Benjamin-Briefwechsels in der „Zeit“, zum Eingrifff, ja Gegenschlag: nämlich entschiedene Verdiktworte auszusprechen wider mich und weitere „hämische Kleingeister“, denen unterm Panier der genauso inferioren FAZ-Kulturabteilung nichts Gescheiteres eingefallen sei, als mit „gehässigen Stimmen“ und einem „Potpourri“ albernster Anekdoten Adorno spät, aber doch noch der „Ranküne“ auszuliefern, gerade weil sie dem nämlich die „Denunzierung falscher Kontinuitäten nicht verzeihen können“ – so Habermas im kompletten Ernst. In der Hast hatte der lokale Schwerphilosoph, der wohl vom FAZ-Feuilleton nicht lange gefragt und um seine Erlaubnis gebeten worden war, dabei nur übersehen, dass außer mir z.B. auch sein eigener Verleger Unseld unter den beklagenswerten Kleingeistern gewesen war, übrigens mit einer sehr sprechenden und recht konzis erzählten Anekdote über Adornos rhetorisches Genie und sein daraus folgendes Raumbesitzergreifungs-Charisma.

„Kleingeister“ – wann seit den Tagen der HJ oder spätestens der kulturabendländischen 50er Jahre hätte man die verräterisch törichte Vokabel je wieder gehört? Es sei hier auch halbwegs dahingestellt, ob es Horkheimer, Adorno und den Ihren grundsätzlich schon mal anders gehen soll und muss als Goethe und Wagner und Thomas Mann; nämlich eines Tages eben plausibel Gegenstand zu werden von Anekdote und gefräßiger Folklore. Auch dem Adorno-Lehrer Karl Kraus blieb ja das Schicksal exakt 50 Jahre nach dem „Fackel“-Finale und im nutznießenden Sinne der österreichischen Fremdenverkehrswerbung nicht erspart; und heute tut die Stadt Frankfurt im Einverständnis mit dem partizipierenden Habermas ja schon seit einem halben Jahr im Zuge ihrer praktisch infiniten Adorno-Geburtstagsfeierlichkeiten mit ca. 250 Events so ca. alles, um aus dem Denkgiganten, aus dem längst lieben Teddie (so sein früher Spitzname) definitiv den Teddybären zu machen; eine Mixtur aus Goethe und Friedrich Stoltze und Heinz Schenk irgendwie zugleich. Fatal. Und fatal wäre tatsächlich die Veralberung von Philosophie (und gar einst revolutionär gemeinter) ins populär Anekdotische. Das macht aber die Anekdote umgekehrt noch längst nicht zum Bösen und zur „Ranküne“ – vielmehr hat sie viel mehr mit Kants „Gefühl für Humanität“ zu tun und trägt u.U. auch gehaltlich mehr zum Weiterleben Adornos bei als der 756. Geburtstagsessay und die bisher ca. sieben Biografien zusammen, die eh allesamt mehr oder weniger nur auf die Paraphrase bekannter Adorno-Zitate und Zuckerl hinauslaufen; mehr auch als die ca. weltweit 2834ste Doktorarbeit. Und es trägt, ihre Glaubwürdigkeit unterstellt, mehr zu einem sinnigen Adorno-Bild insofern auch bei jene zu Habermasens erneutem Schmerz am 11. 8. 94 von der FAZ-Leserbriefabteilung nachgereichte Anekdote aus der Feder von Trudel Roth – sie muss im Kern wahr sein, weil man dergleichen nicht erfinden kann:

„Adornos Sekretärin wohnte in der Nachkriegszeit während ihrer Beschäftigung beim Institut für Sozialforschung bei uns (...) Adorno liebte es nicht – ja, er schien sogar Angst davor gehabt zu haben –, dass Besucher ihn unangemeldet zu sprechen wünschten. Eines Tages erschien ein mit ihm befreundeter amerikanischer Kollege bei der Sekretärin im Vorzimmer und bat um ein Gespräch mit dem Professor. Auf Anweisung versuchte sie ihn abzuwimmeln, was ihr aber erst nach einer lautstarken Diskussion gelang, die Adorno wohl mitgehört haben musste. Als sie danach ins Chefzimmer ging, um Vollzugsmeldung zu machen, schien der Raum leer zu sein. Adorno hatte sich im Schrank versteckt und kam erst wieder raus, als die Luft rein war. Mein Mann und ich wollten es damals nicht glauben, dass jemand, der durch seine revolutionären Thesen die Grundwerte in Frage stellte, vor den kleinen Alltagsproblemen kapitulierte...“ – usw.

Gleich, ob nun dieser Widerspruch das fabula docet der Sache ist oder ob man sich dabei mehr an eine frappant ähnliche und dämonisch-komische Szene in Dostojewskis „Dämonen“-Roman erinnert fühlt: Allemal hat Roths FAZ-Leserbrief mehr Sinn als der adornomimetische und dabei schon unflätige Stuss, den das heutige Schirrmacher’sche FAZ-Feuilleton sich zum Geburtstagsjahr am 30. Juli gestattet – der Qualität: „Jeglicher Seele verbaute er (Adorno) objektiv jegliches Hintertürchen“ – noch jegliche der nicht wenigen Reimereien von „Adorno“ auf „Porno“ ist geisthaltiger als derartig ranziges Gewaafe jenseits schon jeglicher Scham. Hier wäre sie denn wirklich eingetreten, die Habermassche „Denunziation“: Schwachsinn durch halberinnerte Adornolektüre selber.

Ein Wettstreit der Theoretiker

Nicht so bei der Anekdote, der erfunden oder der plan wahren. Adorno, für den, wie zu erwarten, Humor allzeit das übliche „falsche Bewußtsein“, das „Abstoßende“ schlechthin war – er selber hätte fraglos auch sie, zumal die Anekdote über sich selber und die Seinen, entsetzt und, wer weiß, abermals unter Polizeieinsatz zurückgewiesen – einfach, weil er halt, wie von so vielen gleichwohl von ihm berührten Gegenständen, auch von Komik, von Humor wenig Ahnung hatte; wenig Schimmer von beider zuweilen welterhellenden Kraft; und dies, obwohl seltsamerweise favorisierte Adorno-Figuren von Beethoven bis Beckett wesentlich am Humor teilhaben.

Gewiss zurückgewiesen hätte (versicherte mir einmal Wolfgang Abendroth) das hohe Geburtstagskind auch jene beliebteste Anekdote aus meiner Kollektion von 1983, die auf einem syntaktisch-stilistischen Tick Adornos und in der Folge ganzer Heerscharen von Schüler-Adepten gründet – als hier stark verkürzte ende sie den Artikel:

„Um die verzweifelte Stimmung, welche die ,Frankfurter Schule‘ um das Jahr 1933 herum befallen hatte, etwas aufzulockern, veranstaltete Max Horkheimer einen kleinen Wettstreit: Derjenige sollte Sieger und der beste Kritische Theoretiker sein, der das Reflexivum ,sich‘ am weitesten postponieren konnte.“ Während im Fortgang der Anekdote Marcuse, Habermas und Pollock grob versagen, triumphiert – natürlich Adorno: „Das unpersönliche Reflexivum erweist in der Tat noch zu Zeiten der Ohnmacht wie der Barbarei als Kulmination und integrales Kriterium Kritischer Theorie sich.“

Der Schriftsteller Eckhard Henscheid, Mitgründer der „Neuen Frankfurter Schule“, wurde mit seiner „Trilogie des laufenden Schwachsinns“ berühmt. Gerade erscheint eine Gesamtausgabe seiner Werke bei Zweitausendeins.

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