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Kultur: Wie viel Karajan braucht der Mensch?

Der Markt für Klassik-CDs ist gesättigt. Die kleinen Labels zeigen den Großkonzernen den Weg aus der Krise

Die größte Geheimnis von Klassik-Diva Cecilia Bartoli ist der Umsatz ihrer CDs: Keine Auskunft, heißt es beim Branchenriesen Universal,wenn man Zahlen für ihr Salieri-Album, die meistverkaufte Klassik-CD des letzten Jahres, wissen will. Auch bei der Newcomerin der vergangenen Saison, der russischen Sopranistin Anna Netrebko, werden keine Fakten herausgerückt. Und das ist kein Einzelfall – wenn es um Verkaufszahlen geht, bewahren die Klassik-Konzerne derzeit eisernes Schweigen.

Die Stimmung ist angespannt – ein Blick in die Jahresstatistik des Verbands der deutschen Phonoindustrie zeigt den Ernst der Lage: Innerhalb des seit sieben Jahren kontinuierlich schrumpfenden CD-Marktes – allein 2003 wurden 20,9 Prozent weniger CDs verkauft als im Vorjahr – ist die Klassik überproportional betroffen. Von fast zehn Prozent im Jahr 1998 sank ihr Anteil am CD-Absatz 2003 auf alarmierende 7,1 Prozent. Und das, obwohl die CD noch nie so billig war wie heute: Erhöhten sich in den letzten zehn Jahren die Preise für konkurrierende Kulturgüter wie Theaterkarten (+ 41,2 Prozent) und Bücher (+ 24,4 Prozent), sind die Preise für CDs (+ 5,6 Prozent) weitgehend stabil geblieben.

Wird das Kulturgut Klassik-CD bald nur noch eine Nischenexistenz führen? Die Zahlen scheinen eine eindeutige Sprache zu sprechen – aber dennoch ist der Eindruck einer generellen Krise falsch. „Es gibt keine Krise des Marktes, sondern nur die hausgemachten Probleme der großen CD-Konzerne“, erklärt Martin Sauer, der als Produzent die Programmpolitik des Labels harmonia mundi bestimmt. „Die haben über Jahre so gut wie alles falsch gemacht und müssen das jetzt ausbaden.“ Sauer weiß, wovon er spricht – bevor er zu harmonia mundi ging, arbeitete er bei der Teldec, der früher Heimat von Stars wie Barenboim und Nagano war und heute, in Warner Classics umbenannt, nur noch von London aus eine Handvoll Neuaufnahmen pro Jahr auf den Markt wirft.

Der Niedergang der Teldec, in der Labels wie die französische Erato und die deutsche Telefunken aufgingen, ist ein Paradebeispiel für die Fehlentwicklungen auf dem Klassik-Markt: Angelockt durch die hohen Gewinne, die in den Jahren des CD-Booms bis Mitte der Neunzigerjahre möglich waren, wurden etliche national operierende Schallplattenunternehmen von großen Konzernen geschluckt, die der Branche ihre am Pop-Sektor ausgerichteten Betriebsstrukturen und ihre kurzfristigeren Renditeerwartungen diktierten. Aol Time Warner übernahm die Teldec, die amerikanische RCA, einst Heimat von Rubinstein und Heifetz, ging an Bertelsmann, und die Klassik-Labels Decca, Philips und Deutsche Grammophon wurden dem Pop- Konzern Universal einverleibt.

Das funktionierte, solange der CD- Boom anhielt und sich jede Neuaufnahme vom Fleck weg verkaufte – noch vor zehn Jahren besaßen die fünf „Majors“ Emi, Universal, Sony, Bertelsmann und Teldec eine marktbeherrschende Stellung. Sobald sich der Markt jedoch wieder beruhigte und jeder Käufer seine Beethoven-Sinfonien im Schrank hatte, zeigte sich, dass diese Unternehmenspolitik nicht zur Klassik passte: Die Panik-Strategie, ältere Aufnahmen immer billiger zu verschleudern, führte vollends zur Marktsättigung und ruinierte den Ruf des Produktes – wer heute eine Brahms-Sinfonie mit Karajan für fünf Euro kaufen kann, ist nur schwer zu bewegen, für eine Neueinspielung des Vierfache auf den Tisch hinzublättern. Um dieser selbst gemachten Billig-Konkurrenz zu entkommen, setzen Firmen wie die Universal auf die kostspielige Vermarktung ihrer Stars nach Pop-Prinzipien – ohne dabei (Superstars wie Mutter und Bartoli ausgenommen) Verkaufszahlen jenseits der magischen 100000 weltweit zu erreichen.

Hinzu kam noch ein Weiteres: Wurden beispielsweise teure Opern- und Orchester-Produktionen der Majors noch bis Ende der Neunzigerjahre oft durch eine konzerninterne Mischkalkulation gesichert und dienten mehr dem Prestige des Labels als der Bilanz, fiel diese Querfinanzierung angesichts der Krise im Pop-Sektor in den letzten Jahren fort. Die Klassik-Abteilungen mussten plötzlich rentabel sein, steckten aber in aufgeblasenen Betriebsstrukturen, die eine kostendeckende Produktion fast unmöglich machten. Resultat war, dass die Klassik-Produktion quasi in sich zusammenfiel: Riesen von einst wie Teldec/Warner und Sony spielen heute nur noch Nebenrollen im Geschäft, bei der Universal ist der Klassik-Sektor auf das Star-Label Deutsche Grammophon konzentriert – die Traditionslabels Philips und Decca führen nur noch eine Schattenexistenz.

Eine Branchenkrise ist das freilich nur im eingeschränkten Sinne – eher das Zerplatzen einer schillernden Blase von überzogenen Gewinnerwartungen und eine Rückkehr zu den „normalen“ Marktbedingungen der Achtzigerjahre. Und es gibt genug Labels, die in den letzten Jahren Erfolgsgeschichte geschrieben haben. Die niederländische Brilliant Classics, die überwiegend ältere, künstlerisch hochwertige Aufnahmen in Lizenzpressungen zum Dumping-Preis anbietet, hat allein im letzten Geschäftsjahr in Deutschland über vier Millionen CDs verkauft und selbst von einem „dicken Brocken“ wie der Gesamteinspielung der 104 Haydn-Sinfonien mehr als 10000 Exemplare an den deutschen Klassik- Kunden gebracht.

Und bei denjenigen Unternehmen, die sich seit jeher auf die Produktion von Klassik konzentriert haben, ist von Krise keine Rede. Der Klassik-Vertrieb „Note 1“ beispielsweise, der sich auf kleine Labels wie Opera Rara, Wergo und alpha spezialisiert hat, konnte seinen Umsatz in den letzten drei Jahren jedes Mal um 25 Prozent ausweiten. „Die kleinen Labels standen schon immer unter dem Zwang, kostendeckend zu produzieren, haben viel geringere Produktionskosten und ein festes Publikum. Dadurch sind sie viel krisenfester“, erläutert Marketingleiter Wolfgang Reihing. „Während die Majors auf wenige Spitzenprodukte setzen und diese intensiv bewerben, produzieren die kleineren Labels viel enger an den speziellen Bedürfnissen der Klassik-Käuferschicht.“ Mit anderen Worten: Kasse wird hier nicht durch eine Handvoll Bestseller, sondern durch eine breite Palette an Markenprodukten gemacht.

Auch die harmonia mundi, die von Warner Künstler wie Kent Nagano übernommen hat, hat in jedem Krisenjahr ihren Umsatz erhöht und ist mittlerweile zu einem marktbeherrschenden Klassik- Label geworden. Veröffentlichungen wie die Matthäus-Passion mit Philippe Herreweghe oder das Recital mit der Mezzosopranistin Vivica Genaux erzielen dabei sogar Verkaufszahlen im Hunderttausender-Bereich. „Der Klassik- Markt funktioniert langfristiger. Damit sich eine CD amortisiert, braucht sie in der Regel drei bis fünf Jahre“, weiß Sauer. „Und genauso ist es mit der Bindung zwischen Künstler, Label und CD–Käufer. Das Stammpublikum eines Künstlers muss über Jahre aufgebaut werden – dann aber bleibt es seinem Star treu: Für uns ist es zum Beispiel kein Problem, mit René Jacobs’ neuem „Figaro“ in Europa auf Anhieb in die Gewinnzone von 20000 Stück zu gelangen, obwohl der Mozart- Markt übersättigt ist.“

Dennoch weiß man auch hier, dass sich das Produkt Klassik-CD verändern muss, um weiterhin attraktiv zu bleiben. Über kurz oder lang, prophezeit Sauer, werde man auch Klassik in guter Tonqualität aus dem Internet herunterladen können. Selbst der Einheitspreis für Neuveröffentlichungen, die heilige Kuh der Branche, steht für ihn zur Disposition – denn warum sollte ein Starrecital oder eine Opernaufnahme genauso viel kosten wie eine günstig produzierte Klavier-CD?

Vielleicht fällt diese Idee ja bei den gebeutelten Majors auf fruchtbaren Boden. Denn für eine Bartoli-CD könnte man dann locker das Doppelte verlangen.

DER MARKT

Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland etwa 9,5 Millionen Klassik-CDs verkauft. Das sind 20,9 Prozent weniger als 2002. Der Anteil der Klassik am gesamten CD-Verkauf sackte von 8,7 Prozent in 1999 in den letzten Jahren kontinuierlich auf den bisherigen Tiefstwert von 7,1 Prozent.

DAS PRODUKT

2626 neue Klassik-Aufnahmen erschienen 2003 in Deutschland. 1999 waren es noch fast tausend mehr, nämlich 3597. Bestverkaufte Klassik-CD des letzten Jahres war das Salieri-Recital von Cecilia Bartoli. Bei einem Absatz von über 100000 Stück weltweit gilt eine CD als Bestseller.

DIE KÄUFER

Nach wie vor ist Klassik ein Fall für den reiferen Kunden. Im vergangenen Jahr waren 82,1 Prozent der Käufer von Klassik-CDs über 40 Jahre alt. Nur 4,9 Prozent der Klassik-Käufer dagegen waren jünger als 30 Jahre.

Jörg Königsdorf

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