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Freude beim Team von „There Is No Evil“.

© AFP/Tobias Schwarz

Wieder eine politische Entscheidung: Die Berlinale-Leitung hat gewechselt, das Festival bleibt sich treu

Mit „There is No Evil“ gewinnt wieder ein politischer Film aus dem Iran. Der Berlinale-Wettbewerb schwächelte im ersten Jahr unter neuer Leitung. Eine Bilanz.

Von Andreas Busche

Die 70. Berlinale endet mit einem Déjà-vu-Effekt. Mit dem Goldenen Bären für Mohammad Rasoulofs „There is No Evil“ gewinnt zum dritten Mal in zehn Jahren ein iranischer Film den Hauptpreis. Carlo Chatrian hat wiederholt deutlich gemacht, dass er in seinem ersten Jahr als Künstlerischer Leiter nicht den Umstürzler geben würde, ein Festival wie die Berlinale brauche Kontinuität. Diesen Gefallen hat ihm die Jury unter Präsident Jeremy Irons getan.

Die Entscheidung ist politisch: Wie 2015, als Jafar Panahis „Taxi Teheran“ den Goldenen Bären erhielt, ist der Regisseur des Siegerfilms bei der Verleihung nicht dabei. Das iranische Regime hat Rasoulofs Pass eingezogen, in seiner Heimat steht er unter verschärfter Beobachtung.

Wieder triumphiert die Politik

Der Hauptpreis ist das mächtigste politische Instrument eines Filmfestivals, die Jury hat dieses Mittel eingesetzt. Doch wie groß ist die Wirkung? Auch Panahi durfte 2018 seinen Film „Drei Gesichter“ nicht persönlich in Cannes vorstellen.

Der Slogan der politischen Berlinale war das Markenzeichen von Chatrians Vorgänger Dieter Kosslick. Er ist oft dafür kritisiert worden: Politik dürfe auf einem Festival nicht die Hauptrolle spielen, wichtiger sei die Kunst. Nun leitet der Cineast Carlo Chatrian im ersten Jahr die Berlinale – und wieder triumphiert die Politik.

Dabei ist die Entscheidung in einem mäßigen Wettbewerb durchaus plausibel. Zwar besitzt „There is No Evil“ nicht die Qualität von Asghar Farhadis „Nader und Simin“ (Goldener Bär 2011) und „Taxi Teheran“, hob sich aber von der Konkurrenz in diesem Jahr ab.

Die Tochter klagt den eigenen Vater an

In vier Episoden behandelt Rasoulofs Film die Frage nach moralischer Verantwortung und Zivilcourage in einem totalitären Staat. Die erste begleitetet einen Gefängnisangestellten über einen Zeitraum von 24 Stunden durch die Routine des Familienalltags. Nachts exekutiert er dann im Auftrag des Regimes verurteilte Dissidenten.

Der letzte Teil von „There is No Evil“ ist autobiografisch angelegt. Eine Hauptrolle darin spielt die Tochter des Regisseurs, die ihren Vater anklagt, seine politische Überzeugung über das Wohl der Familie zu stellen. Rasoulof hat sich entschieden unter schwierigsten Bedingungen weiter im Iran zu arbeiten, seine Frau und seine Tochter leben in Hamburg.

Eliza Hittman hätte den Goldenen Bären auch verdient

Wie kann eine Jury, die nach rein ästhetischen Kriterien beurteilen soll, solch einem Film überhaupt gerecht werden? „There is No Evil“ hat starke, dichte Passagen, aber die Qualität der vier Episoden ist schwankend. Man spürt bisweilen auch, dass Rasoulof seine Kritik am Staat, gemessen an den Vorgängerfilmen, fast zurückhaltender formuliert. Aber wer sonst hätte den Hauptpreis gewinnen sollen?

Nachvollziehbar wäre allenfalls gewesen, wenn die Jury die Auszeichnungen für Rasoulof und die US-amerikanische Regisseurin Eliza Hittman, die den Großen Preis der Jury für „Never Rarely Sometimes Always“ erhält, genau anders herum vergeben hätte. Der Jury-Preis ging zuletzt meist an Filme mit starken gesellschaftlichen Themen.

Dieses Kriterium erfüllt auch Hittmans Film über eine 17-Jährige aus einem Kaff in Pennsylvania, die sich mit ihrer Cousine für eine Abtreibung auf eine Odyssee durch New York begibt. Aber „Never Rarely Sometimes Always“ ist dank der rastlosen Bilder von Kamerafrau Hélène Louvart formal schlüssiger. Wie Rasoulof entwirft auch Hittman, das haben die beiden Siegerfilme gemeinsam, in den individuellen Schicksalen eine Allegorie auf die Verhältnisse in ihrem Land.

Aus deutsche Sicht ein doppelter Erfolg

Aus deutscher Sicht ist diese Berlinale ein doppelter Erfolg. Paula Beer wird für ihre Rolle in Christian Petzolds Berliner Unterwassermärchen „Undine“ ausgezeichnet; der Kameramann Jürgen Jürges erhält Silbern für seine „herausragende künstlerische Leistung“ in dem umstrittenen Kammerspiel „Dau.Natasha“ von Ilya Khrzhanovskiy und Jekaterina Oertel.

Der russische Regissseur stand wegen seiner übergriffigen Umgangsformen am Set auch während des Festivals in der Kritik. Viel Berlin dieses Jahr: Seit dem Streit um die hiesige „Dau“-Installation wird das Projekt eng mit der Hauptstadt assoziiert, zwei weitere Berlin-Filme nahmen am Wettbewerb teil, „Schwesterlein“ von den Schweizerinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond aus der Schweiz und Burhan Qurbanis ehrenvoll-überambitionierte Adaption „Berlin Alexanderplatz“.

Mit den deutschen Beiträgen – ein Geschenk auch fürs Berliner Publikum – hat Chatrian allerdings kein glückliches Händchen bewiesen. Das mag am aktuellen Angebot liegen – in seinem letzten Locarno-Jahr entdeckte er immerhin das großartige Debüt „Alles ist gut“ von Eva Trobisch.

Es gab zu wenig herausragende Wettbewerbsfilme

Zu wenig herausragende Wettbewerbsfilme: Dieses chronische Problem wurde lange Dieter Kosslick angekreidet. Offenbar ist es jedoch strukturell: International scheint es immer weniger herausragende Filme zu geben, die drei großen europäischen Festivals Aufmerksamkeit und Qualität verschaffen können. Das Phänomen war zuletzt auch in Cannes und Venedig zu beobachten.

Carlo Chatrian macht sich zudem mit seinem neuen Wettbewerb „Encounters“ – seine wichtigste Reform – selbst Konkurrenz. 33 Filme in zwei Arthouse-Wettbewerben sind auf hohem Niveau kaum zu stemmen. Sinnvoller wäre es gewesen, die stärkeren „Encounters“-Filme in den Hauptwettbewerb zu heben.

Starke neue „Encounters“-Reihe

Den existenzialistischen Dokumentarfilm „Gunda“ über ein Schwein, Sandra Wollners rigoros inszeniertes Sci-Fi-Drama „The Trouble with Being Born“ über Trauerarbeit verrichtende Androiden (Spezialpreis der „Encounters“-Jury) und das kraftvolle Klerusdrama „Servants“ des slowakischen Regisseurs Ivan Ostrochovský. Die Kriterien, die Filme für die „größere“ oder „kleinere“ Reihe qualifizieren, sind unscharf.

Dafür hätte man getrost auf Filme wie „Schwesterlein“, Abel Ferraras „Siberia“ oder „Effacer l’historique“ von Benoît Delépine und Gustave Kervern verzichten können. Nun verleiht ausgerechnet die starke „Encounters“-Reihe der schwächelnden Bären-Konkurrenz Schlagseite. Profil bekommt die Berlinale aber nicht durch eine weitere Reihe (bei gleichbleibend überschaubarem Angebot), sondern durch einen überzeugenden Wettbewerb.

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