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Kultur: Wieder in Ruinen

Nach dem Bürgerkrieg, der nicht enden wollte, hatte Libanon so etwas wie ein normales Leben gefunden. Bis Israel angriff

Schon wieder diese Bilder. Man möchte weinen. Die zerstörten Häuser von Beirut, die riesigen Rauchsäulen, die mit Wasser vollgelaufenen Bombenkrater, die schreienden Sanitäter, die blutenden Verletzten – ein alptraumhaftes Déjà vu der Tage des Bürgerkriegs. Der erste Gedanke: Bitte nicht schon wieder. Die Erinnerung an den Schrecken von damals, an die kollektive Angst und die mentale Mutation, die man auch an sich selbst erlebt hat, deprimiert. Vor dem inneren Auge leben noch einmal die vier Wochen Recherche von Anfang Januar bis Anfang Februar 1986 auf. Als eine Demarkationslinie Beirut in einen West- und einen Ostteil zerschnitt, härter noch als die Mauer Berlin. In Deutschland wurde wenigstens nicht täglich geschossen. In Beirut war ein Leben ohne die an den Nerven zerrende Krachkulisse gar nicht denkbar.

Meine Unterkunft befand sich in der christlichen Osthälfte der Stadt, in einem Kloster der Pères Lazaristes im Viertel As-Sioufi. Von dem burgartigen, auf einem Hügel gelegenen Sandsteinbau ließ sich ganz Beirut überblicken. Es gab kaum ein Haus ohne Einschusslöcher. 1986 dauerte der Krieg bereits elf Jahre, ein Ende war nicht abzusehen. Vier Jahre zuvor waren die Israelis durch den Süden des Libanon bis nach Beirut gestürmt, um die Palästinenser unter PLO-Chef Jassir Arafat zu vertreiben. Als das Ziel erreicht war, ließen die Soldaten des damaligen israelischen Verteidigungsministers Ariel Scharon zu, dass christliche Milizionäre Hunderte der in den palästinensischen Flüchtlingslagern Sabra und Schatila verbliebenen Frauen, Kinder und Greise massakrierten.

Beirut war im Jahr 1986 kaputt. Der äußere Zustand der Millionenmetropole spiegelte die Zerrüttung von Politik und Moral. Die Place des Martyrs, einst das strahlende Zentrum der Stadt, die vor dem Krieg das Paris des Nahen Ostens genannt wurde, war ein trümmerübersätes Niemandsland an der „green line“. So hieß die Demarkationslinie zwischen den christlichen und den muslimischen Vierteln. Ein makaberer Begriff für eine Todeszone, an deren wenigen Übergängen Milizionäre und Soldaten ihre Macht über die Passanten auskosteten.

Die großen Hotels, wie der gewaltige Betonkasten des Holiday Inn und das St. Georges an der Küste, waren von Milizen besetzt. Erst verschanzten sich hier Kämpfer der Christen, vor allem die Tiger-Miliz des ehemaligen Staatschefs Camille Chamoun sowie die Kataib, die Privatarmee des mächtigen Gemayel-Clans. Dann wurden die Hotels von muslimischen Kriegern erobert, allen voran den links-sunnitischen Murabitun und ihren palästinensischen Verbündeten. Die Milizen richteten in den zerschossenen Hotels, die bald kaum mehr als Betongerippe waren, ihre Stützpunkte und Hauptquartiere ein. Dort wurden auch Gefangene gefoltert, verstümmelt und ermordet.

Bei einem „Ausflug“ nach West-Beirut zeigte ein Libanese aus sicherem Abstand auf die perforierte, aber immer noch mächtig in den Himmel ragende Ruine des Holiday Inn. „In den oberen Stockwerken liegen die Leichen“, sagte der Mann tonlos. Wir fuhren weiter zur Hamra, einst die Haupteinkaufsstraße Beiruts. Im Januar 1986 war die Prachtmeile zu einer staubigen Piste voller Schlaglöcher heruntergekommen. An einigen Fassaden hingen riesige Chomeini-Poster – ein deutlicher Hinweis auf den schon damals wachsenden Einfluss schiitischer Fundamentalisten auf die muslimische Szene des Libanon. Doch unbekümmert stolzierten junge Frauen im Minirock die Hamra entlang. Viele Geschäfte waren beschädigt, in dem Viertel hatten sich fliegende Händler und Geldwechsler eingerichtet. Dicke Dollarbündel lagen auf umgedrehten Obstkisten. Trotz der Schlaglöcher tobte der Verkehr. Zerbeulte Daimler rasten die Straße hinunter und wichen nur aus, wenn ein Pick-up einer Miliz entgegenkam – mit aufgepflanztem Maschinengewehr, an dem ein unberechenbarer Kämpfer im Tarnfleckendress den Finger am Abzug hielt.

Der Libanese hatte mich gewarnt: Sie müssen auf jeden Fall vor Einbruch der Dunkelheit im Hotel sein. Die Unterkunft war das „Commodore“, nahezu das einzige nicht zerstörte Hotel im Westteil. Eine patinöse Herberge mit einem kleinen Roulettesaal. Das Hotel war voll belegt mit Journalisten und zwielichtig wirkenden Geschäftsleuten – und doch „ein Stückchen Himmel in der Hölle“, wie ein englischer Reporter einmal gesagt haben soll. Das Commodore stand nicht allzu weit von der Hamra entfernt, doch dann passierte es. Auf dem Weg zum Hotel kaufte ich in einem kleinen Geschäft eine Tafel Schokolade. Plötzlich brach draußen eine Schießerei aus. Der Ladeninhaber schlich mit müdem Blick zur Tür und schloss sie ab. Die wenigen Kunden standen fatalistisch herum und warteten. Es gab keine Panik, niemand drängte in die hinteren Räume. Schüsse waren so normal wie der Untergang der Sonne. Und sie ging unter, während es draußen weiterknallte. Erst nach einer Stunde war es vorbei. Der Ladenbesitzer öffnete stumm die Tür. Die Straße war weitgehend dunkel. Das Commodore lag etwa zehn Minuten entfernt. Zehn Minuten Angst. Im Eiltempo und im Slalom an mehr geahnten als erkannten Löchern im Bürgersteig vorbei. Zum Glück brannte im Commodore das Licht. Die letzten Meter konnte man rennen.

Am nächsten Tag ging es in Richtung Süden, durch die schiitischen Slumviertel vor dem Flughafen. Etwa alle 200 Meter musste der libanesische Fahrer anhalten – Straßensperre. Kämpfer der Hisbollah oder der Amal, einer weiteren Schiitenmiliz, stoppten die Wagen. Die Krieger trugen Jeans und bändigten ihre Wildwuchsmähnen mit grünen Stirnbändern, auf denen Parolen zum Lobe Allahs prangten. Der Fahrer rief jedesmal „Sahafun min Almaniya“, Journalist aus Deutschland. Die Milizionäre hielten ihre Kalaschnikows erst ihm, dann den Fahrgästen ins Gesicht. Nach einigem Palaver ging es weiter. Bis zur nächsten Sperre. Irgendwann tauchte im Staubnebel der Flughafen auf. Eine tote Kulisse. Damals landeten dort nur noch sporadisch Maschinen. Der halbzerstörte Airport war Territorium der schiitischen Milizen und damit für jeden anderen eine No-go-Area.

Die christlichen Viertel wirkten vergleichsweise aufgeräumt. Trotz der Zerstörungen war der Alltag dort etwas besser organisiert. Die Stromversorgung brach nicht ganz so oft zusammen. Es gab ein paar Einkaufszentren, sie waren weitgehend unterirdisch angelegt, genauso wie die Post. Auch wenn es oben knallte, konnte man im Kellergeschoss, edel mit Marmorplatten dekoriert, störungslos telefonieren.

Doch der christliche Ministaat im Libanon war auch im Januar 1986 instabil. Prosyrische und antisyrische Fraktionen standen sich lauernd gegenüber. Und plötzlich war es so weit: Mitte Januar attackierten die Syriengegner in der Miliz „Forces Libanaises“ deren syrienfreundlichen Chef, Elie Hobeika. Der bei den militanten Christen seinen „guten“ Ruf als Anführer der Schlächter von Sabra und Schatila verloren hatte, wegen Verhandlungen mit den im Libanon stehenden Syrern. Drei Tage lieferten sich die verfeindeten Christen einen verbissenen Kampf. Hobeikas Hauptquartier und Benzintanks am Hafen gingen in Flammen auf. So wie heute standen damals riesige Rauchsäulen über der Stadt. Die Zivilbevölkerung war in ihren Häusern gefangen, es knallte und donnerte überall, an jeder Ecke konnte in der nächsten Minute ein Gefecht ausbrechen. Am Morgen des dritten Tages waren es die Christen endgültig leid. In einer Kirche begannen die Glocken zu läuten, dann in einer zweiten, einer dritten. Bald erschallte in der ganzen Osthälfte Beiruts der mal hell, mal dunkel klingende Ruf nach einem Ende des Bruderkampfes. Doch das Schießen hörte nicht auf. Mehr als eine Stunde rangen die Glocken mit den Maschinengewehren, den Granatwerfern und den Schützenpanzern. Erst als die Kirchentürme längst wieder verstummt waren, endete die Schlacht. Hobeika hatte verloren und floh nach Zypern. Sein Rivale Samir Geagea, ein Killertyp mit sanfter Stimme, schwang sich zum Milizführer auf. Doch Hobeikas Anhänger blieben im Untergrund aktiv. Nur wenige Tage nach den Kämpfen explodierte im Ostteil Beiruts eine Autobombe. In der Straße waren die Fassaden nahezu komplett weggeflogen, der große Krater in der Fahrbahn stand rasch voll Wasser. Bilder, wie sie auch jetzt wieder zu sehen sind.

Dabei schien der Schrecken des Krieges, der 1990 endete, noch vor wenigen Tagen gebannt zu sein. Trotz des Schocks vom Februar 2005.

Nahe dem St. Georges-Hotel detonierte am 14. Februar eine gewaltige Bombe. Sie zerriss den ehemaligen Premierminister Rafik Hariri und seine Leibwächter. Das St.Georges wurde ein Symbol doppelter Zerstörung: Nach dem Krieg nicht wiederaufgebaut und als Betonhöhle verrottend – und jetzt mit einem Bombenkrater davor, gesäumt von ausgebrannten Autowracks. Auch im März sah es noch so aus, als sei die Bombe eben erst explodiert. Viele Libanesen kamen zum Tatort, sie trauerten um den milliardenschweren Baulöwen und Versöhnungspolitiker Hariri, der den Libanon und vor allem Beirut wiederaufgebaut hatte. Die Angst vor einer Rückkehr des Krieges plagte vor allem die Alten. Die Jungen waren wie Fußballfans in libanesische Fahnen gehüllt und skandierten: Syria out now, und auch obszöne Parolen gegen das Regime des verhassten Nachbarn. Der hatte den Bürgerkrieg genutzt, um Libanon eine endlos scheinende Besatzung aufzuzwingen.

Dennoch war jetzt auch Lebensfreude zu spüren, ein wohltuender Kontrast zu der allgegenwärtigen, traumatisierenden Dauerangst der Libanesen im Januar 1986. Die meisten Kriegsruinen waren abgetragen oder saniert, ganze Viertel neu entstanden. Vor allem ein Teil des historischen Zentrums neben der Place des Martyrs glänzte im März 2005, als habe es Hariri mit einem Zauberstab berührt. Teure Boutiquen reihen sich an Restaurants, auf dem Nejmeh-Platz steht wieder ein Uhrenturm im Art-déco-Design. Doch etwa einen Kilometer entfernt mahnte damals die kolossale Ruine des Holiday Inn. Das mit Einschusslöchern gesprenkelte, ausgeschlachtete Betonmonstrum bekamen die Libanesen nicht weg. Die Sanierung klappte nicht, aber sprengen ließ sich die Hotelruine auch nicht. Das Holiday Inn wurde erdbebenfest gebaut. Deshalb hatten es die Milizen auch nicht zerstören, sondern „nur“ ramponieren können. Ob allerdings in den oberen Stockwerken noch immer Leichen liegen, konnten die befragten Libanesen nicht sagen. Es schien auch niemanden zu interessieren. Selbst an einer so monströsen Ruine blickt man irgendwann vorbei.

Im November 2005 war das Leben wieder irgendwie normal. Auf der Rue Hamra herrscht jene Art von Verkehrschaos, die zum Beobachten, Reflektieren und Träumen einlädt. Man möchte glauben, dies sei eine kosmopolitische Strecke, mit all den kleinen Boutiquen und Straßencafés, in denen Studenten von der American University sitzen, alte Männer mit ihren Zeitungen, Geschäftsleute. Eine sagenhafte Dichte von Handys, Taxis, Zigarettenschachteln, Sonnenbrillen, Designereinkaufstüten.

Rue Hamra, Hamra Street. Der Name einer Vision, einer Erinnerung. Levantinisches Nachtleben, pulsierende Kultur in den Jahrzehnten vor dem Bürgerkrieg, der 1975 über den Libanon kam. Vielleicht ist die Rue Hamra einmal so gewesen, wie der Westler sich den modernen Orient wünscht; zwischen Paris und Damaskus. Und von beidem das Beste.

Etwas von diesem offenen Weltgeist, oder weltoffenem Geschmack, der die Hamra einst berühmt gemacht hat, lag in jenen milden Novembertagen über der Gegend. Das Zentrum des Zentrums von Beirut, man konnte sich hier frei und ohne Angst bewegen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Ein Auto, das nach Mitternacht neben einem anhält, war nichts weiter als ein Sammeltaxi.

In der Hamra lag der zentrale Spielort des Festivals „Home Works“: ein Kino, in dem libanesische Künstler ihre Theaterperformances und Filme zeigten und mit dem Publikum debattierten. Über Kunst und Politik. „Lecture Performance“ nennt sich das hier gebräuchliche Genre. Meistens Solostücke. Rabih Mroué und Walid Raad heißen die auch international wichtigsten Vertreter dieses Theaters, sie erzählen, in orientalischer Tradition, Geschichten. Ein Laptop mit Screen, das ist ihr Requisit. Es sind Geschichten von Entführungen, Bürgerkrieg, Diskriminierung. Vom Zusammenhang von Kunst und Gewalt.

Kleine mobile künstlerische Einsatzkommandos, die überall ohne großen Aufwand probieren und auftreten können: Rabih Mroué und Walid Raad waren auch schon in Berlin. Storyteller der Globalisierung. Leben können sie nicht von ihren Auftritten. Und sie haben allzeit die staatliche Zensur zu gewärtigen. Ein Künstler wurde wegen seiner sexuell freizügigen Sprache belangt, ein anderer machte bei einer Auslandsreise mit dem FBI unliebsame Bekanntschaft: Die Amerikaner hielten ihn für einen Terrorismusverdächtigen, setzten ihn ein Wochenende lang fest.

„Home Works“ war nach dem Hariri-Attentat vom Frühjahr in den Herbst verschoben worden, aus Sicherheitsgründen. Für den Fremden aber war in diesem Moment, der schon wieder Geschichte ist, vom Bürgerkrieg nichts mehr und von den politischen Spannungen im Land kaum etwas zu spüren. Die Gespräche mit den Künstlern und ihre Darbietungen nährten die Illusion vom Frieden und einer Zukunft, in der diese 20-, 30-Jährigen, die die Rue Hamra bevölkern, ebensogut in Tel Aviv am Strand sitzen könnten.

Und was die Rue Hamra im Kleinen ist, ist oder war der neue Flughafen von Beirut, benannt nach dem ermordeten Politiker und Unternehmer Hariri im Großen: eine gewaltige Shopping Mall, eine Drehscheibe, eine Tür, die sich jetzt erst einmal wieder geschlossen hat.

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