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Frontales Lehrstück. Das Stadttheater Stockholm präsentierte zum Festivalstart die unter Einwanderern spielende Terrorismus-Studie „Ich rufe meine Brüder“ .

© Biennale

Wiesbadener Biennale "Neue Stücke aus Europa": Kontinent der Rebellen

Von Baumeistern und Flüchtlingen: Die Wiesbadener Biennale „Neue Stücke aus Europa“ verabschiedet sich nach 22 Jahren - mit einem Programm, das dem Protest ein Forum geben will.

Finale! Was im Fußball das ersehnte Ziel ist, stimmt im Theater (wie im Leben) weniger hoffnungsfroh. Es geht etwas zu Ende. Diesmal fällt in Wiesbaden, mit Gastspielorten auch in Frankfurt am Main, der Vorhang für ein tatsächlich einzigartiges internationales Festival. Für ein Konzert der Stimmen unseres Kontinents: Schlussakt der Biennale „Neue Stücke aus Europa“. Nach 22 Jahren.

Es begann 1992 in Bonn. Der dortige Theaterintendant Manfred Beilharz hatte die Idee, alle zwei Jahre ein Forum für aktuelle europäische Dramen und ihre Autoren zu schaffen. Das Originelle dabei: Bedeutende (Theater-)Schriftsteller aus allen Staaten des Kontinents, von Island bis Russland, von Portugal bis zur Türkei, fungierten als „Paten“, die aus ihren Ländern jeweils andere, meist jüngere Dramatiker mit den Aufführungen ihrer Stücke vorschlagen. Als Kodirektor des Projekts gewann Beilharz, der 2002 mit seiner Biennale als Generalintendant nach Wiesbaden gewechselt ist, zudem den Großdramatiker Tankred Dorst, der auch selber auf die Pirsch nach Talenten ging, von Lissabon bis nach Nowosibirsk.

„Schriftsteller sind ja eigentlich Einzelgänger und in ihrem eigenen Kosmos gefangen. Auch geraten Autoren als Juroren über andere Autoren in eine merkwürdige Rolle. Deshalb war ich anfangs skeptisch“, erzählt der 88-jährige Dorst. „Aber es hat funktioniert, weil Neugierde und Enthusiasmus gesiegt haben.“ Dorst lächelt. Es ist, weil der Intendant Beilharz in den Ruhestand tritt und sein Nachfolger Uwe Lauffenberg (einst Potsdam, zuletzt Opernchef in Köln) andere Pläne hat, die letzte dieser Europa-Biennalen. Tankred Dorst, gerade von München nach Berlin übergesiedelt, hat bald wieder mehr Zeit für die eigenen Stückprojekte, und er wirkt nun am Rande des Wiesbadener Kurparks im hellen Leinenanzug wie der schöne alte Sommergast aus einer melancholischen Komödie Anton Tschechows.

Rebellisches Theater: Eine Europabellion?

Abschiede und gar Todesfälle im Schleier der Komödie, das könnte zum Programm dieses finalen Festivals gehören, das bis zum 29. Juni Stücke und Aufführungen aus diesmal 25 Ländern präsentiert – unter dem Motto „Rebellisches Theater“. Eine Europabellion? Eher nur ein verzweifeltes Aufbegehren zeigen beispielsweise die Auf- und Ausbrüche der an den Küsten Europas strandenden Flüchtlinge aus Afrika. „Die unglaubliche Geschichte des Mädchens, das Letzte wurde“ von Carla Guimares, zum Festivalbeginn am Donnerstagabend gespielt von einer Freien Gruppe aus Madrid, spiegelt das Schicksal einer (realen) Olympionikin aus Somalia, die in einem der Flüchtlingsboote vor Lampedusa starb. Aus dem Requiem für die Sprinterin Samia Yusuf Omar wird freilich eine etwas studententheaterhafte Farce mit mal trashigen, mal folkloristischen Slapstickeinlagen, um der Trauer ein möglichst junges, Tränen lachendes Gesicht zu geben.

Zum neuen europäischen Chor gehören immer deutlicher die Stimmen der Postmigranten, ähnlich wie das in Berlin Shermin Langhoff im Maxim Gorki Theater demonstriert. Der spanische Beitrag über die im Mittelmeer versunkene Somalierin stammt von einer brasilianischstämmigen Autorin. Das Stadttheater Stockholm präsentierte die unter Einwanderern spielende Terroristen-Paranoia-Studie „Ich rufe meine Brüder“ von Jonas Hassem Khemir, der als Sohn eines Tunesiers in Schweden geboren ist, als frontales Lehrstück inszeniert von der Migrantin Farnaz Arbabi. Österreichs Beitrag „Habe die Ehre“ wird gar angekündigt als „erste Ehrenmordkomödie der Theatergeschichte“ und stammt von dem 29-jährigen Wiener Autor Ibrahim Amir, der als syrischer Kurde in Aleppo geboren wurde. Und das Deutsche Theater Berlin zeigt als inländisches Gastspiel „Muttersprache Mamaloschn“ von der jungen russisch-deutschen Dramatikerin Marianna Salzmann.

10 000 Zuschauer strömen zur europäischen Stücke-Biennale

Zu den Überraschungen der mit rund einer Million Euro vornehmlich vom Land Hessen geförderten europäischen Stücke-Biennale gehört tatsächlich der Publikumszuspruch. Bis zu 10 000 Zuschauer strömen in zehn Tagen in zwei Dutzend Stücke, deren Autoren, Theater und Sprachen sie meist nicht kennen, mit Kopfhörern und Simultanübersetzungen. So aber hatten bei der Biennale auch Weltkarrieren begonnen, 2004 beispielsweise die des lettischen Autor-Regisseurs Alvis Hermanis („Das lange Leben“) oder zehn Jahre zuvor in Bonn die des Briten Simon McBurney, der mit seinem franko-englisch (ohne Akzente) firmierenden Theatre de Complicite in „Street of Crocodiles“ furios an den von den Nazis ermordeten galizisch-jüdischen Dichter Bruno Schulz erinnert hat.

Zeitgenössisches Drama versucht sich in autoritären Staaten als freier Spiegel der Zeit.

Von solchem Kaliber war sie jetzt nicht, die eigentliche Eröffnungs-Aufführung dieser letzten Biennale. Der viel gefeierte französische Theater- und Filmregisseur Joel Pommerat nennt seinen mit der Pariser Compagnie Louis Brouillard inszenierten Szenenreigen „Die Wiedervereinigung der beiden Koreas“ und lässt das Publikum auf zwei Tribünen sich gleichsam nord- und südkoreanisch gegenübersitzen. Doch der Titel ist nur ein Gag – und eine Metapher für die Grenzen zwischen Männer und Frauen, zwischen Familienangehörigen, zwischen Liebenden, Scheidenden, Hassenden, Hassliebenden.

Pommerat treibt seine neun wechselnden Akteure meist paarweise oder zu dritt in immer neue, in ihrer Mechanik freilich bald durchschaubare und darum doch alte Beziehungskistenkriege. Das wirkt zu klein für die großen Auftritte im Halbdunkel und Bühnennebel zwischen den so bedeutungsvoll arrangierten Tribünen. Wie sie sich dabei küssen und schlagen und französisch vielredend weder zu einander kommen noch von einander lassen können, das hat der weit raffiniertere Botho Strauß schon vor Jahrzehnten in dem knappen Bild von der „unüberwindlichen Nähe“ gefasst.

Russisches Theater als Loyalitätsbekundung gegenüber Putin?

Rebellisches Theater? Aus der Ukraine waren zwei Maidan-Stücke im Gespräch, aber die Aufführungen nicht nach Deutschland zu übertragen. Manfred Beilharz hat es dafür geschafft, am gestrigen Samstag zumindest die ukrainische Patin, die Dramatikerin Neda Neschdana, auf ein Podium mit dem russischen Kollegen Mikhail Durnenkow zu bewegen. Beide sind Mitte 30, also postsowjetisch geprägt, und Durnenkow sieht das Theater Russlands schon traditionell auch „als Zufluchtsstätte für Dissidenten“. Andererseits kritisierte ein litauischer Autor, dass fast alle prominenten russischen Theater- und Opernkünstler in letzter Zeit Loyalitätsadressen gegenüber Vladimir Putin abgegeben hätten.

Im Gespräch verweist Manfred Beilharz dagegen auf das bei der letzten Biennale 2012 gezeigte und in St. Petersburg noch immer laufende Stück „Circo Ambulante“ von Andrej Mogutschij, eine, wie er sagt, „im Grunde gnadenlose Satire auf die Scheindemokratie à la Putin“. Beilharz zeigt sich stolz: „Wir haben seit 1992, damals drei Jahre nach dem Mauerfall und zu Beginn des Balkankrieges, zum gegenseitigen Verständnis von mittlerweile 41 Ländern beigetragen. Wir waren auch die Ersten, die gleich nach dem Zerfall Jugoslawiens die Künstler der Teilstaaten wieder auf eine gemeinsame Bühne gebracht haben.“

Auch an diesem Wochenende präsentieren Kroaten und Serben in Wiesbaden als Koproduktion ein Stück über den ermordeten serbischen Ministerpräsidenten Zoran Oinoik. Und die Diskussionen zwischen den 41 Paten gleichen einem europäischen Schriftsteller-Parlament, mit prominenten Namen wie dem griechischen „Faust“-Übersetzer und Krimiautor Petros Markaris („Abrechnung“) oder dem englischen Kultstückschöpfer Mark Ravenhill („Shoppen & Ficken“).

Das Theater als freier Spiegel der Zeit

Ob in Minsk oder Moskau, in Budapest oder Istanbul: Das zeitgenössische Drama versucht sich in autoritären Staaten mit weitgehend gelenkten Massenmedien noch als freier Spiegel der Zeit. Fast wie in Osteuropa vor dem Mauerfall. Anderswo ist es schon sehr viel weiter, in der Zukunft. So tanzen in „Late Night“, einer Kollektivproduktion der Athener Blitz Group drei Paare über einen staubigen Zauberteppich: in einem alten ehemaligen Ballhaus, zwischen den Gipstrümmern unserer Zivilisation. Sie vollführen wie abgestürzte Zirkushelden noch ein paar Trickkunststücke und erzählen mit heiterer Melancholie von nahen europäischen Bürgerkriegen, den letzten Tagen von Berlin, Paris, London, wo die Tiere aus den zerstörten Zoos durch die Innenstädte irren und in die Menschenleere nur ein paar Verkehrsampeln noch Leuchtzeichen senden aus unserer gerade vergangenen Gegenwart. Auch das ist eine Komödie, und die Griechen sind, im Ästhetischen wie im Fiskalischen, die erprobten Ruinenbaumeister Europas.

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