zum Hauptinhalt

Wildplakatieren in Berlin: Kleben und kleben lassen

Virale Werbung im Netz? Multimediale Effekte auf Plakatwänden? Was Werbestrategen für zeitgemäß halten, ist Wildplakatierern wie Wolfgang egal: Sie werden bezahlt, die Plakate der Anderen einfach immer wieder mit den eigenen zu überkleben. Dabei gilt: Viel hilft viel! Eine Nacht mit Kleister.

Es ist fast neun Uhr, als Wolfgang das erste Mal an diesem Abend im Stau steht: im Plakatierer-Stau. Der Hermannplatz in Neukölln, Ecke Hasenheide, eine knapp 50 Meter lange leer stehende Ladenzeile hoch: komplett zugeklebt. Drei Männer mit ausgemusterten Post-Fahrrädern stehen da, vorne ein Eimer Kleister, hinten ein Sortiment Plakate, kleistern die Wand ein, kleben. Und Wolfgang, 58 Jahre, lange, lockige Haare, Schnauzbart und Memphis-Zigaretten, sitzt in seinem Auto und wartet, denn frisch angebrachte Plakate zu überkleben, gehört sich für ihn nicht, „also schauen wir mal, was die an Platz übrig lassen.“ Wild-Plakatieren in Berlin – das bedeutet Gerangel um die besten Plätze. Wenn es dunkel wird, ziehen an manchen Tagen ganze Gruppen durch die zentralen Kieze. Häuserwände, von denen sich zentimeterdicke Plakatschichten schälen lassen, gehören hier an vielen Ecken zum Straßenbild.

Es ist Werbung, von der etablierte Werbestrategen wenig halten. „Eine Ordnungswidrigkeit, die schlicht und ergreifend verboten ist“, schimpft Volker Nickel, Sprecher des Zentralverbandes der deutschen Werbewirtschaft. Rund 800 Millionen Euro würden auf legale Weise bundesweit jährlich in Außenwerbung investiert. Um gut 5 000 Plakate in der Stadt zu verkleben, berechnen kleine Agenturen, wie diejenige, für die Wolfgang arbeitet, indes nur knapp 2 000 Euro, ein Spottpreis für großflächige Werbung, die jeder sieht. Was die Kalkulation der Agenturen und ihrer Auftraggeber begünstigt: Nur die wenigsten wilden Plakate ziehen Anzeigen oder Ordnungsgelder nach sich. Zu gut wissen solche wie Wolfgang, wo es auf ein Plakat mehr oder weniger nicht ankommt, und wo man trotzdem gesehen wird. Auch ohne die Modernisierungen, auf die Branchengrößen wie die Wall AG in Berlin zunehmend setzen, ohne Plakatwände mit wechselnder Werbung oder Videoleinwände. Wie ein Gemeindebrief fürs Viertel scheint das, was der alte Mann mehrmals pro Woche austrägt. Und der irgendwie ankommt: Sonst hinge diese Stadt wohl kaum voller Plakate. Sonst stünde Wolfgang seltener im Stau.

Wiener Straße, Ecke Spreewaldplatz, eine Bürste, ein Eimer Leim, ein Glascontainer und sechs Plakate, „so viel kriegt man da immer ran“. Die Temperaturen sind längst unter den Gefrierpunkt gefallen, etwas Salz im Kleister verhindert das Einfrieren. Wolfgang kennt die Leute und sie kennen Wolfgang. Sogar mit Vornamen – das ist der Unterschied. „Mensch, Wolfgang, grüß dich“, ruft ihm ein Spaziergänger zu. „Mensch, du, grüß dich auch“, antwortet Wolfgang, der sie – wenn auch nicht mit Namen – alle irgendwie kennt: den Mann vom Spätkauf in der Wiener Straße beispielsweise, die Dame aus dem Plattenladen am Landwehrkanal, die Betreiber einer Dönerbude in der Reichenberger. „Man kommt rum“, sagt Wolfgang, ein Tagedieb alter Schule, der noch weiß, dass Arbeit nichts wert ist, wenn sonst keine Zeit mehr bleibt. Zum Beispiel für Musik. Fast 1000 CDs stapeln sich in der Kreuzberger Wohnung des ehemaligen Fernfahrers, der heute – neben dem Kleben – ab und an Baucontainer schrubbt. Hard-Rock, eine Mix-CD jetzt im Autoradio, von Black Sabbath bis Uriah Heep, langhaarige Männer mit Schnauzbart, hohen Stimmen und ausschweifenden Gitarrensoli und Wolfgang singt mit zum plärrenden Autoradio, „This is a thing I’ve never known before and it’s called easy livin‘“, der VW Golf, Baujahr 1991, mit über 250 000 Kilometern auf der Uhr, aber ohne Heizung.

Kabarett in Charlottenburg, Techno in Friedrichshain

„Ich war ausgezogen, um die Welt zu erobern, aber die Welt war bereits erobert“, lässt Autor und Allroundgenie Rocko Schamoni seinen Antihelden Michael Sonntag im Roman „Sternstunden der Bedeutungslosigkeit“ einmal sagen. Sonntag, ein sich dem allgemeinen Leistungsdruck verweigernder Lebenskünstler aus Hamburg, verdingt sich als Roadie einer drittklassigen Band und Wildplakatierer für einen nervtötenden Haudrauf. Eine Romanfigur wie ein Passepartout für Wolfgang, den gebürtigen Dresdner, langhaarig schon als Jugendlicher, der irgendwann merkte, dass „eine Dauerkarte für einen Stehplatz bei Dynamo und ein paar Uriah-Heep-Platten unter dem Bett“ nicht die schlechtesten Lebensinhalte sind.

17 Jahre war Wolfgang, der 1984 im Rahmen einer Familienzusammenführung in Kreuzberg landete, mit seiner Frau verheiratet, gebürtig aus Bosnien, Hard-Rock-Fan so wie er. Eine glückliche Ehe, bis zu jenem Samstagabend vor zwei Jahren, Boxen im Fernsehen, als sie sagte, dass ihr plötzlich so übel sei, sie einen Schwall Blut erbrach und auf dem Weg ins Krankenhaus starb, eine gerissene Aorta, keine Chance, sagt Wolfgang, der seitdem noch mehr Zeit hat. „We will rock you“ singt das Autoradio.

„Lasst uns froh und munter sein“, steht auf dem Plakat, das Wolfgang jetzt klebt, Werbung für einen Weihnachtsmarkt, zweisprachig deutsch und englisch, Berlin-Mitte, Touristengebiet. An den drei Motiven, die Wolfgang an diesem Tag in ungefähr bemessener Mehrhunderterauflage im Auto hat, lässt sich einiges über die Bewohner der Viertel ablesen, in denen er sie schließlich an die Wände „knallt“: gediegenes Kabarett in Charlottenburg und Schöneberg, die Weihnachtsmarktwerbung in Mitte und Werbung für eine DVD über einen Technoschuppen in Friedrichshain, Kreuzberg und Neukölln. „Plakate sind praktisch nie Gesprächsthema, anders als beispielsweise Fernsehwerbung“, sagt Joachim Trebbe, Sozialwissenschaftler für Medienanalyse an der FU Berlin. „Damit sie sich als Werbeträger eignen, müssen sie deshalb in Massen verbreitet werden. Und der Streuverlust ist enorm, wer nicht weiß, wo seine Zielgruppe lebt, klebt praktisch völlig umsonst.“

Apropos Streuverlust: Am Hermannplatz überklebt Wolfgang schließlich die „Rixdorfer Perlen“ und ein Festival für indische Tanzmusik. Von Beethovens Neunter, einem Fremdkörper in Neukölln, lässt er die Finger. Meister unter sich.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false