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Schreibt blitzartig aufleuchtende Sätze. Romancier Wilhelm Genazino, geboren 1943 in Mannheim.

© picture alliance / dpa

Wilhelm Genazinos Roman "Bei Regen im Saal": Ich kichere, also bin ich

„Bei Regen im Saal“: Auch Wilhelm Genazinos neuester Held fremdelt in der Welt der Frauen herum, beklommen und verklemmt.

Philosophie beginnt bekanntlich mit dem Staunen, in dem sich das Selbstverständliche in etwas Merkwürdiges, Nachdenkenswertes verwandelt. Der Icherzähler in Wilhelm Genazinos Roman „Bei Regen im Saal“ ist Philosoph oder vielmehr: Er hat einmal Philosophie studiert, lebt nun so vor sich hin als sogenannter „Überwinder“ oder Berater von Frauen in misslichen Lebenslagen, muss dabei aber fürchten, als Aushilfsredakteur des Taunus-Anzeigers zu enden. Was ihn staunen lassen könnte, ist die zunehmende Romanhaftigkeit seines Lebens, die er dabei empfindet.

Wie alle Helden Wilhelm Genazinos in all seinen Romanen ist auch dieser Philosoph einigermaßen tragisch auf Frauen oder vielmehr auf Sex fixiert, um immer wieder an ihnen – oder am Sex – zu scheitern. Die daraus resultierende „Schmerzverharrung“ schärft seinen melancholisch-genauen Blick auf die Gesamtmerkwürdigkeit der Welt in all ihren Einzelheiten. Eine Frau, die im Theaterfoyer mitgebrachte Brote isst; eine Sekretärin, die eine Banane verzehrt und die Schale auf ihrer Tastatur ablegt; zerschlissene Stellen am Unterhemd, ein Rote-Bete-Fleck auf der Hose oder Worte wie „Nackenstützkissen“ und das zugehörige Ding in einem Schaufenster: Das sind die Genazino-Momente, auf die es ankommt, weil die Alltagsroutine in ihnen fadenscheinig und also durchsichtig wird.

Nicht lachen, kichern

Das Staunen aber hat sich Wilhelm Genazinos philosophisch geschulter Erzähler abgewöhnt. Zum Staunen, Fragen und Weiterdenken ist er insgesamt zu müde und auch zu ungewaschen. Seine Grundhaltung ist vielmehr das Kichern. Ein Büroangestellter, der sein Auto sorgfältig verschließt und im Weggehen das Jackett über einen Kleiderbügel hängt, bringt ihn ebenso zum Kichern wie eine Gruppe von Greisen, die per Hebebühne in einen Transporter gehievt werden und im Wageninneren gemeinsam mit den Köpfen wackeln oder die Art und Weise, wie die Kaninchen im Stadtpark ihren Hinterleib nachziehen. Doch über Tiere zu lachen ist unwürdig, weil Tiere nicht wissen, was Lachen bedeutet. So erfährt sich der Mensch als lachendes Wesen im Gegensatz zum Tier. Schließlich stand auch das Lachen am Anfang der Philosophie, wenn auch nur als Lachen der Thrakerin, die den stolpernd in den Brunnen fallenden Thales von Milet komisch fand.

Doch zum Lachen gibt es bei Wilhelm Genazino eigentlich nichts. Der Icherzähler – dass er Reinhard heißt, erfährt man beiläufig erst gegen Ende des Buches – lacht nicht, er kichert. Das ist ein Unterschied, denn Kichern hat nichts Befreiendes, sondern wirkt eher verklemmt. Kichern hat etwas mit Scham zu tun, mit heikler Sexualität und nicht bewältigten Gefühlslagen, und das sind die Situationen, in denen sich Genazinos trauriger Philosoph immer wieder verstrickt. Nichts Neues also unter der Erzählersonne, denn darüber schreibt Genazino schon immer und unverdrossen Buch um Buch.

Von der Brust zur Urbrust

Reinhard zeichnet sich vor allem durch ein pathologisches Verhältnis zu weiblichen Brüsten aus, weil ihn die Erinnerung an die Brüste seiner Mutter nicht verlässt. Alle Brüste, die er sieht – und er sieht viele – führen zur mütterlichen Urbrust zurück und können doch niemals Erlösung bieten. Das versehentliche Berühren der Brust der Arzthelferin verursacht beklommene Peinlichkeit. Die großen Brüste der Sekretärin, die immer ihre BH-Träger zurechtzupft, haben ein pennälerhaftes Rumknutschen auf der Parkbank zur Folge. Und die Brüste der Geliebten Sonja haben, wenn sie nackt neben ihm liegt, die Tendenz, rechts und links ihres Körpers herunterzurutschen, so dass er sie immer wieder in die Ausgangslage bugsiert. Damit aber kann er nicht verhindern, von Sonja verlassen zu werden, die einen Mann gefunden hat, der sie sogar heiraten will.

Das alles führt erzählerisch gesehen zu nichts, sondern plätschert immer so vor sich hin. Die Dramatik ist überschaubar, wenn es schon mitteilenswert ist, dass „in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch meine kleine Leselampe kaputtging“. Später brennt dann auch noch die Kühlschrankleuchte durch. Höhepunkte sind auch beim Sex eher unwahrscheinlich. Reinhard ist nicht zu beneiden, so viel ist klar, doch immerhin produziert Wilhelm Genazino auf diese Weise blitzartig aufleuchtende Sätze, auf die es ankommt und für die es sich dann vielleicht doch lohnt, ihn zu lesen. „Schon seit längerer Zeit machte es mir kaum noch etwas aus, den anderen Menschen immer mehr zu ähneln.“ Oder: „Vieles im Leben geschah nur, damit es verheimlicht werden und im Inneren des Menschen umso heftiger erzählt werden konnte.“ Oder: „Mein Innenleben war nicht so großartig, dass ich vor ihm keine Angst hätte haben müssen.“ Und Sonja einmal: „Unzufrieden bin ich immer. Dazu brauche ich keinerlei Wirklichkeit.“

Nicht unbedingt ein Happy End

Es sind Vertracktheiten wie diese und Beobachtungen am Rande, die kleinen Details, das Unwesentliche, die in Genazinos vermufften Kleinbürgerexistenzen gelegentlich doch ein wenig Trost und Linderung möglich scheinen lassen. Dass Sonja wieder zu Reinhard zurückkehrt, muss nicht unbedingt als Happy End gedeutet werden. Das Schlussbild des Romans ist jedoch das äußerste an Schönheit, was dieses Dasein zwischen Verlassenheit und Verfall hervorzubringen vermag. Da küssen sich die beiden und können darüber sogar lachen, nicht kichern. Dann steigen sie in eine halbleere S-Bahn. „Wir setzten uns nebeneinander und flüsterten.“ Und mit diesem Flüstern versiegt der alles überflutende Wortstrom des Erzählers für einen kleinen, gnädigen Augenblick. Zeit genug, das Buch halbwegs versöhnt zuzuklappen.

Wilhelm Genazino: Bei Regen im Saal. Roman. Hanser Verlag, München 2014. 158 Seiten, 17,90 €.

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