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Kultur: "Willenbrock": Tatzeit zwei Uhr nachts

"Gaby, das Schicksal steht über unserem Haus. Agamemnon ist nichts gegen uns", klagt die Fabrikantentochter Herta Wadzek in Alfred Döblins Industrieroman "Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine" von 1918.

"Gaby, das Schicksal steht über unserem Haus. Agamemnon ist nichts gegen uns", klagt die Fabrikantentochter Herta Wadzek in Alfred Döblins Industrieroman "Wadzeks Kampf mit der Dampfturbine" von 1918. Das zu Unrecht etwas in Vergessenheit geratene Buch beweist in der Schilderung des selbstzerstörerischen Konkurrenzwahns des Fabrikanten Wadzek ein weiteres Mal die psychiatrische und schriftstellerische Doppelbegabung Döblins. Nüchtern breitet er eine Fallstudie aus, zieht sich auf die Beobachtung zurück, statt die Ereignisse zu kommentieren. Der Don Quichotte Wadzek steigert sich im Wettkampf mit dem skrupellosen Unternehmer Rommel in gigantomanische Machbarkeitsphantasien hinein. Familienfehden, Pistolen und angebliche Morddrohungen auf Trambahnbillets kommen ins Spiel, bis er einen grotesken Ich-Verlust erleidet. Das alles geschieht vor der Kulisse der aufstrebenden Industriemetropole Berlin vor dem Ersten Weltkrieg, ein vom Expressionismus beschleunigtes "überscharfes Bild von Menschen, Häusern, Wagen, Gegenständen" liefernd.

Wie farblos und langweilig dagegen erscheint das heutige Berlin in Christoph Heins Roman "Willenbrock". Agamemnon wohnt jetzt in einer spießigen Neubausiedlung im Norden der Stadt, in einem von "zwölf sich völlig gleichenden, zweistöckigen Häusern mit einem Garten und Hecken umgeben, die jetzt kaum einen Meter hoch waren, aber später einmal als dichter immergrüner Sichtschutz die Häuser deutlicher voneinander abgrenzen sollten". Das wiedervereinigte Deutschland, knapp zehn Jahre nach der Wende wirkt es weitgehend gesichtslos. Auch das Debüt des bisherigen Aufbau-Autors Hein bei Suhrkamp zum 50-jährigen Verlagsjubiläum, ist ein Unternehmerroman - mit dem Unterschied, dass hier nicht mit großem Gestus und lärmenden Turbinen produziert, sondern mit gebrauchten Autos gehandelt wird. Alles verläuft ruhiger, kleinbürgerlicher, schäbiger, im restaurativen Stil der neuen Zeit. Auch geht es weniger um einen spektakulären Ich-Verlust als um eine schleichende Korrosion des Ich, um eine Aushöhlung der Person Bernd Willenbrock durch eine Sicherheitsneurose, einen Kontrollwahn.

Christoph Hein versteht sich als Chronist, der mit großer Genauigkeit aufzeichnet, was er gesehen hat. Vielleicht sind die Ereignisse auf dem Betriebsgelände des Bernd Willenbrock ja tatsächlich schmucklos und eintönig. Das gibt dem Chronisten jedoch nicht das Recht, seine Leser seitenweise mit unsinnlicher Prosa zu traktieren. Es geht tagein, tagaus über etwa anderthalb Jahre um: Umbauten, Neubauten, Steurerklärungen, Abrechnungen, Zahlungen, Abschläge. Willenbrock arbeitete zwanzig Jahre lang als Ingenieur bei der DDR-Rechenmaschinenfabrik "Triumphator". Sein Vorgesetzter Feuerbach bespitzelte ihn und verhinderte somit seine Auslandsreisen, wie er im nachhinein erfährt. Nach der Wende kam er eher zufällig zum Autohandel - ein patenter Mann in den mittleren Jahren, der scheinbar alles im Griff hat, von Geschäften mit den Russen bis zu nachmittäglichen Seitensprüngen mit attraktiven Kundinnen. Das Innenleben Willenbrocks, seine Reflexionen wirken fast schon ärgerlich banal. Christoph Heins bewundernswerte Fähigkeit zur mimetischen Rollenprosa offenbart in diesem Fall ihre Schattenseiten, wie schon in seinem Roman "Das Napoleonspiel" von 1993.

Der erfolgreiche Kleinunternehmer Willenbrock könnte geradewegs der CDU-Wahlwerbung für die blühenden ostdeutschen Landschaften entstiegen sein. Er führt seinen Autohof mit einem einzigen Mechaniker, dem Polen Jurek. Er ist der eigentliche positive Held des Romans, vor allem mit seinem Misstrauen gegen Willenbrocks russischen Großkunden Krylow und dessen imperiales Auftreten soll er Recht behalten. Insgesamt vier Überfälle hat Willenbrock während der zäh sich dahinschleppenden erzählten Zeit zu gewärtigen. Falls man von einem dramaturgischen Höhepunkt sprechen will, so ist es der Einbruch in Willenbrocks Landhaus am Stettiner Haff "in der Nacht zum 27. Juli", wie am Kapitelanfang protokollarisch korrekt vermerkt wird.

Der Zweikampf mit einem der russischen Einbrecher, eine Auseinandersetzung um Leben und Tod, traumatisiert den Helden und seine Frau Susanne nachhaltig. Regelmäßig fahren sie um zwei Uhr nachts, der Tatzeit, aus dem Schlaf hoch. Auch ihr so selbstverständlich und vertraut erscheinendes Verhältnis zerfasert zusehends. Verschärfend kommt hinzu, dass die Täter nicht festgesetzt, sondern nach Polen abgeschoben werden. Die Überfallenen erfahren damit ein Ungerechtigkeitserlebnis in der Nachfolge des Michael Kohlhaas. Die Konsequenzen sind zwar zunächst weniger drastisch, doch der Horizont des Tatmenschen Willenbrock verengt sich immer mehr auf das Thema Sicherheit. Nach und nach zieht er sich von seinen sozialen Kontakten zurück. Überall wittert er Feindseligkeit, selbst beim Begräbnis der Schwiegermutter. Dabei bleiben sämtliche Szenerien des Willenbrockschen Ehelebens blass - sei es eine bemüht komisch dargestellte Modenschau in Susannes Boutique, eine Reise nach Venedig oder der allfällige Besuch beim Italiener: "Sie erwiderte nichts, sondern sah sich [...] im Gastraum um und betrachtete die Gipsfiguren und Vasen, die antiken Modellen nachgebildet waren und eine mediterrane Atmosphäre schaffen sollten."

Der Mühe, Atmosphäre zu schaffen, hat sich der Autor nicht erkennbar unterzogen. Das Innenleben der Figuren, falls vorhanden, bleibt ein ungelüftetes Geheimnis. Der katastrophale Ausgang der Geschichte lässt sich erahnen, als Krylow seinem deutschen Geschäftsfreund eine Pistole aufdrängt. Hinter der westlichen Zivilisation schimmert die Barbarei durch, und die kommt in diesem Roman reflexhaft aus dem Osten. Das wird so umstandskrämerisch und mit einer vorhersehbaren, wenig originellen Wortwahl geschildert, als wollte Hein damit die wachsende Zwangsneurose seines Helden widerspiegeln. Überzeugend ist es nicht.

Angela Drescher, Lektorin beim Aufbau-Verlag, sprach in einer Rede zu Christoph Heins 50. Geburtstag im Jahre 1994 scherzhaft von der "Rolle der Triebkraft Langeweile in Christoph Heins Prosa und Dramatik." In "Willenbrock" entfaltet diese Triebkraft ungebremst ihre Wirkung, zum Schaden des durchaus interessanten Gegenstands.

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