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Die Klimaaktivistin Greta Thunberg.

© dpa/Pontus Lundahl/TT News Agency/AP

Willkommen im Greta-Zeitalter: Die Wiedereroberung der Zukunft steht bevor

Die 10er Jahre waren eine Zeit der Erregungs- und Gefühlsorgien. Aber auf die 20er Jahre können wir uns freuen: Sie bringen einen neuen Green Deal. Ein Gastbeitrag.

Im zurückliegenden Jahr scheint uns die Zukunft im Sinne eines Besseren abhandengekommen zu sein. Obwohl oder gerade weil Zukunft ein unendlich inflationierter Begriff geworden ist. Auf allen Businessbroschüren, Plakaten, Anzeigenkampagnen taumeln grinsende Roboter unter dem Zukunftslogo durchs Bild, auf den Werbeplakaten fahren SUVs unaufhörlich in die Zukunft (weite Landschaften, leuchtendes Grün), alle Parteiprogramme wimmeln von Zukunfts-Phrasen. Aber je mehr der Zukunftsbegriff zum Allgegenwarts-Wort wird, desto hohler erscheint er in seinem Inneren.

Das liegt nicht an der Ökonomie. Auch nicht wirklich an der Politik. Es liegt an einer radikalen Veränderung der Wahrnehmungsformen, an einem Verlust dessen, was wir gemeinhin Realität nennen. Nennen wir es eine kognitive Krise.

Wir wissen nicht mehr, was wahr ist, und zunehmend auch nicht mehr, was Wahrheit eigentlich bedeutet: eine Wirklichkeit, auf die wir uns einigen können. Realität als jener Zusammenhang, zu dem wir uns als Menschen, als Gesellschaft in Beziehung setzen können, scheint zu verschwinden. Aber wie jede Entwicklung der menschlichen Kultur erzeugt auch diese eine Gegenkraft. Im Schrecken des aktuellen Problems verbergen sich immer schon die Lösungen von morgen.

Hinter dem Lärm der Erregungs- und Gefühlsorgien waren die zehner Jahre auch ein Jahrzehnt der neuen Innerlichkeit. Psychologie war der heimliche Gewinner; auch die Philosophen erlebten ein Comeback. Einer der großen Bestseller der Dekade war Daniel Kahnemanns „Schnelles Denken, Langsames Denken“, ein Buch über die Art und Weise, wie wir kognitiv Wirklichkeit konstruieren. Selbst Yuval Noah Hararis Zukunfts-Epos „Homo Deus“, das den Posthumanismus in verdaulicher Dosis präsentiert, wendet sich am Ende der Internalität zu. Im letzten Kapitel empfiehlt der Autor Meditation als allein wirksame Weltordnungstechnik. Die eigentliche, die latent mächtige Frage der Dekade lautete: Wer sind wir eigentlich?

Meditation als Weltordnungstechnik

Meditation und Yoga sind heute anerkannte Kulturtechniken, die selbst in Behörden betrieben werden. Buchtitel wie „Gelassenheit“ und „Würde“ erreichen Millionenauflagen. Überhaupt wird wieder mehr analog gelesen – wurde uns nicht noch vor Kurzem prophezeit, dass Bücher demnächst nur tote Bäume sind? Der Begriff der Achtsamkeit hat sich zum vielleicht größten Sehnsuchtsbegriff unserer Tage entwickelt. Großunternehmen ernennen Achtsamkeits-Manager, und Millionen Menschen sind gerade dabei, der medialen Erregungs-Hydra den Rücken zu kehren.

In gewisser Weise kehren wir damit zurück zu Bewusstseinsfragen der 60er und 70er Jahre: Wie können wir uns als Individuen so verändern, dass auch ein gesellschaftliches Weiter möglich ist? Wie werden wir unabhängiger von den Konditionierungen der Konsum- und Mediengesellschaft? Der Begriff, der damals wichtig war und demnächst eine Renaissance erlebt, lautet Emanzipation – im Sinne des Ausstiegs aus der erlernten Unmündigkeit.

Digitaler Katzenjammer

Die große Story, der revolutionäre Mythos dieses vergehenden Jahrzehnts war ohne Zweifel der Digitalismus. Diese Ideologie hatte magische Geschichten zu bieten, Narrative von höchster Faszination: Künstliche Intelligenz, Smart Living, Bitcoin- und Blockchain-Mirakel, virtuelle Wunder, Internet der Dinge und erweiterte Realitäten. Im Rausch des Dataismus nahmen die Errungenschaften der Computertechnik bisweilen halluzinative Formen an, bis zum Status einer semireligiösen Erlösungsfantasie. Bis er erst vor Kurzem dem wich, was man digitale Ernüchterung nennen kann oder auch den digitalen Katzenjammer.

In den USA begann dieser Ernüchterungsprozess einige Jahre früher. „Wired“, das Leitmagazin des digitalen Pop, prägte im Trump-Wahljahr 2016 den Begriff „Techlash“, eine Mischung aus „Backlash“ und Technik. Pünktlich zur Jahrzehntwende veröffentlichte „Wired“ jetzt eine melancholische Rückwärts-Bilanz der digitalen Revolution.

Wenn man durch die ersten 25 Jahre dieser Zeitschrift blättert, fällt auf, dass die Zukunft niemals gleich verteilt wird. Die Zukunft hört einfach nicht auf anzukommen, zu mutieren.

Das Netz als Goldgrube

Zurückblickend erscheint als größter Fehler die Annahme, dass die Ökonomie des Überflusses die sozialen und ökonomischen Ungleichheiten beenden würde. 1997 argumentierte John Katz, dass wir „Zeugen einer neuen Gestalt von Nation“ sind, der digital nation. Damit forme sich eine postpolitische Philosophie. „Die Digitale Nation zeigt den Weg zu einer rationaleren, weniger dogmatischen Politik. Die Informationen der Welt sind befreit, und in Folge werden auch wir befreit sein!“ Wir würden alle Millionäre, alle Kreative, so Katz, alle würden wir vernetzte Kollaborateure sein. Doch was als tiefe Einsicht in das Wesen von Bits und Atomen begann, verwandelte sich in eine Goldgrube für Investitionskapitalisten, um große, lukrative Märkte durch die Unterwanderung von Regulationen zu erobern.

Zu Beginn der zehner Jahre waren die Banker die verhassteste gesellschaftliche Gruppe. Am ihrem Ende waren es die Tech-Tycoons aus dem Silicon Valley. Heute wird das digitale Wunder-Lied nur noch in einer bayerischen Partei, auf FDP-Parteitagen und auf den ewigen IT-Konferenzen mit 90 Prozent Männeranteil gesungen. Besonders die Autoindustrie gaukelt uns weiterhin vor, Mobilität könne durch Digitalisierung gewonnen, beziehungsweise zurückgewonnen werden. Inzwischen ahnen wir: In Zukunft stehen wir dann digital im Stau.

Abschied vom Utopismus

Der Abschied vom digitalen Utopismus heißt natürlich nicht, dass digitale Technologien wieder verschwinden. Aber wir treten in eine neue Phase ein, in der das digitale Universum einerseits selbstverständlich wird, andererseits qualitativ neu konstruiert werden muss. Die Zähmung und Zivilisierung des Internets steht bevor. Auch das ist im Grunde ganz normal: Neue Techniken erzwingen und erzeugen immer auch neue Soziotechniken – erst durch die damit verbundenen Krisen entwickeln sich nach und nach intelligentere Systeme, die man in der heutigen Sprache „nachhaltig“ nennt.

Womit wir bei Greta Thunberg wären. Immer in turbulenten Übergangszeiten tritt scheinbar aus dem Nichts eine charismatische Symbolfigur – ein Zukunfts-Avatar – auf die Bühne der Weltgeschichte. Jeanne D’Arc, Gandhi, John F. Kennedy ... Dabei kommt es weniger darauf an, ob diese Personen tatsächlich Erfolg haben. Je umstrittener, ja verhasster sie sind (Kennedy wurde ja sogar erschossen), desto wirksamer weisen sie die Richtung auf den neuen zivilisatorischen Code.

Als Aspergerin verfügt Greta über die seltene Gabe, die vielen Abers und Wenns zu ignorieren, die mit der KlimaHerausforderung zusammenhängen. „How dare you destroy our future!“ Eine solche Haltung macht die Welt wieder frisch, weil sie sich nichts mehr einreden lässt.

Fossilverbrennung führt in die Sackgasse

Bei Menschen, die noch nicht völlig verbittert sind, entsteht dabei eine heilsame Wirkung, eine Katharsis, die ins Neue führt. Wir erkennen plötzlich schamvoll, dass sich mit dem ungeheuren (und unbestreitbaren) Erfolg des Industrialismus eine fatale Verstrickung verbindet. Die exzessive Nutzung fossiler Energien ist nicht nur ein Nebenaspekt unserer Lebensweise, sondern der Kern eines Welt- und Naturverständnisses, das in die Sackgasse führt. Unsere Gesellschaft selbst ist auf gewisse Weise fossil geworden. Der brutale Ökonomismus, der sich in der Verteidigung des Extraktivismus zeigt, hält uns den Spiegel vor. Wir sind alle Junkies einer Lebensweise, die weder uns noch der Natur guttut.

Verzicht und Vermeidung mögen vorübergehend notwendige Antworten sein. Aber der wahre green deal tritt erst in Kraft, wenn das Ökologische zu einer Befreiungs- und Gestaltungsidee wird. Ökologie berührt nicht nur die Frage der stofflichen Kreisläufe, der Gestaltung der Mensch-Natur-Zusammenhänge. Sie betrifft auch Eigentums- und Demokratiefragen. Kommunikationsstile und Selbstbilder, Wertedimensionen und Lebensweisen, nicht zuletzt auch das Verhältnis der Geschlechter.

Die Menschheit wird zur neuen Einheit

Die besondere Attraktivität des Ökologischen besteht darin, dass es uns als Menschen, als Erdbewohner, auf neue Weise in Beziehung setzt. Kein Wunder, dass der populistische Nationalismus diese Idee mit jeder Faser bekämpft!

Probleme, die die Vergangenheit erzeugt hat, lassen sich jedoch nie mit den Mitteln der Vergangenheit lösen. Sondern immer nur auf einer neuen Stufe des Zusammenhangs. Der chinesische Autor Liu Cixin ist zu einem Superstar des Science-Fiction-Genres geworden. In seinem Opus „Die Wandernde Erde“ (in einer wunderbar kitschigen Verfilmung bei Netflix zu sehen), macht sich „die Menschheit“ gemeinsam auf, die vom Untergang bedrohte Erde zu retten.

Das ist pathetisch, kindlich, und manchmal richtig rührend. Der chinesische Nationalismus erweist sich dabei als dienend und emphatisch. Die entfremdeten Generationen finden wieder zusammen. In der Wiedereroberung ihrer Zukunft läuft die Menschheit zu ganz neuen Formen der Kooperation auf. Sie konstituiert sich selbst.

Dem Zynismus trotzen

Die 20er Jahre des 21. Jahrhunderts werden die Tür zu einem einzigen blauen Planeten weiter aufstoßen, aller Hysterie, allem besserwisserischen Zynismus und aller Untergangsangst zum Trotz. Wir sind mittendrin in einem Wandel, den unser furchtverliebtes Hirn immer noch als Katastrophe missversteht
(Matthias Horx ist Gründer des „Zukunftsinstituts“. Soeben erschien sein „Zukunftsreport 2020“).

Matthias Horx

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