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Kultur: Wir alten Schachteln

Martenstein testet, was sexy ist auf der Berlinale

Martina Gedeck möchte in einem Interview mit der „Zeit“ ihr Alter nicht nennen. Martina Gedeck tritt, mit sexueller Ausstrahlung versehen, in der Romanverfilmung „Elementarteilchen“ auf. Im Internet findet aber jeder, der sich dafür interessiert, innerhalb von zehn Sekunden den Geburtstag von Martina Gedeck heraus, es ist der 14. September 1961. Dass jemand ein Problem damit haben könnte, 44 Jahre alt zu sein, finden wir drei alten Schachteln – Meryl Streep, Sigourney Weaver und ich – total süß. Wir drei sind nämlich auch mit weit über 44 immer noch gut im Geschäft und strahlen alles Mögliche aus.

Eine sexy Alterserscheinung ist zum Beispiel der Tränensack. Männer mit sexy Tränensäcken: Robert Mitchum. John Hurt. Jean Reno. Marquard Bohm. Frauen mit sexy Tränensäcken: Anna Magnani. Annie Girardot. Renan Demirkan. Beim Anblick von Tränensäcken denkt der Betrachter, dass die betreffende Person jahrzehntelang ihren Nachtschlaf vernachlässigt hat, diese Aura lädt zu weitschweifenden, die Attraktivität fördernden Fantasien über das nächtliche Verhalten der jeweiligen Person ein. Es gilt aber als erwiesen, dass Robert Mitchum nachts ununterbrochen getrunken hat, dass Horst Tappert immer zeitig zu Bett geht und dass Renan Demirkan in jeder Nacht bis zum Morgengrauen antirassistische Resolutionen unterzeichnet. Auch Tränensäcke können lügen.

Eine sexy Geistesstörung heißt „Autismus“. Als ich den Eröffnungsfilm sah, mit Sigourney Weaver als Autistin, kamen mir all die Filme meines Lebens in den Sinn, in denen Schauspieler mit Armen und Zunge komische Bewegungen gemacht haben, Jodie Foster in „Nell“, Leonardo DiCaprio in „Gilbert Grape“, Russell Crowe in „A Beautiful Mind“, Robert De Niro in „Zeit des Erwachens“, ich könnte stundenlang aufzählen. Geisteskrankheit ist wie ein Tränensack, man will sie nicht direkt bekommen, aber wenn man sie erst einmal hat, wirkt sie unglaublich attraktiv. Deswegen beschäftigen namhafte Tageszeitungen wie diese hier während der Berlinale sorgfältig ausgewählte, besonders alte, besonders geisteskranke Kolumnisten. Martina Gedeck muss vor dem Alter wirklich keine Angst haben.

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