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Kultur: Wir Knackwurstesser

Meister der Primärreize: Die Galerie C/O Berlin huldigt dem britischen Fotografen Martin Parr

Farbe kann wehtun. Manche Fotos von Martin Parr erinnern an das kindliche Spiel mit dem Farbkontrastregler am Fernseher. Man dreht den Knopf bis zum Anschlag, bis nur noch Rot und Grün übrig bleiben. Ähnlich brutal schießt ein Parr-Stillleben dem Betrachter in die Augen: auf signalroter Wachstuchdecke steht eine Plastikschale mit grünlicher Suppe darin, daneben ein Teller mit Limonenvierteln. Guten Appetit?

Kaum zu glauben, dass der heute 55-jährige Martin Parr einmal überzeugter Schwarzweißfotograf war. Beeindruckt von Koloristen mit der Kamera wie Tony Ray Jones oder William Eggleston, entdeckte er dann aber in den achtziger Jahren die Farbfotografie für sich. 1986 erschien sein erster Farbbildband „The Last Resort“, in dem Parr schonungslos die Unterschichtenferien an Englands Südküste dokumentierte. Seitdem gilt Parr als visueller Historiograf seiner Zeit. In einem Atemzug mit Tom Wood wird er als zentraler Protagonist der New British Photography genannt. Doch im Gegensatz zum feinsinnigeren Kollegen Wood setzt der Magnum-Fotograf Parr weniger Zwischentöne denn Primärreize ins Bild.

„Assorted Cocktail“ heißt der vielfach giftige Mix aus 200 Bildern, die über zwei Stockwerke des Postfuhramts verteilt sind. Zum dritten Mal stellt Martin Parr bei C/O Berlin aus, doch erstmals an der Spree wird dem Briten nun eine umfassende Retrospektive gewidmet. Der Betrachter beginnt mit zuckersüß-bonbonbunten Impressionen aus Mexiko (2003) und bewegt sich dann einigermaßen chronologisch rückwärts durch sozialkritische Serien aus England, Belgien oder Griechenland.

Am Ende stehen Porträts von Deutschen, denen Parr 1996 und 2002 zu Leibe rückte: Knackwurstesser, Stiernacken, Männer mit Federhut und Berliner Schrebergartenidyllen. Ein künstliches Deutschlandbild. Aber auch nicht unbedingt gelogen.

Mit ungewohnter Distanz dokumentierte der in Bristol lebende Fotograf die Tristesse der Hafenstadt Glasgow. Mausgrau und Rostbraun dominieren, das Wetter ist regnerisch, vor dem Ausgang eines Festzelts stapelt sich Plastikgeschirr. Die Party ist längst vorbei, aber im Werk Martin Parrs ist eine solche Melancholie eher Ausnahme. Sonst stürzt er sich, seit 1994 Mitglied der Agentur „Magnum“, immer mitten ins Leben. Seine fotografische Fantasie entzündet sich an schillernden Oberflächen. Klischees? Kein Problem. Dass die menschliche Figur bei ihm oft in Blümchenmustern, Warenauslagen und Alltagskitsch ertrinkt, hängt freilich auch mit heutigen Konsumwirklichkeiten zusammen. Zur Ikone der Selbstentfremdung wird die Rentnerin im Liegestuhl, deren Gesicht hinter einer Englandflagge verschwindet. Oder: Zwei Touristinnen fotografieren sich gegenseitig vor einem blauen Meereshintergrund, der sich im T-Shirt der einen Frau wiederholt. Parr steigert die Unwirklichkeit solcher Szenen, indem er seine Modelle mit Blitzlicht vom Umfeld isoliert, als wäre die Natur nurmehr Rückprojektion im Hollywoodstudio.

Noch einmal zeigt C/O Berlin Parrs Bilderpuzzle „Common Sense“ (1995/98): ein verwirrendes Panoptikum aus über 100 Kleinformaten, in dem hautfarbene Plastikenten zu Lebewesen und mit Accessoires behängte Menschen zu Puppen werden. Dem zentralen Fetisch unserer Tage, dem Handy, spürte Martin Parr in seinem Bilderzyklus „Phone Project“ nach (1998/2001). Überall auf dem Globus hat der Fotograf die Straßentelefonierer abgelichtet. Die Unterschiede in Haltung und Gesichtsausdruck sind minimal, ethnische und kulturelle Eigenheiten werden sekundär. Alle Menschen sind gleich auf Martin Parrs Fotos. Oder zumindest sind sie sich erschreckend ähnlich.

C/O Berlin, Oranienburger Straße/Tucholskystraße, bis 2. März, Mo.–So. 11– 20 Uhr, geschlossen am 24. und 25. Dezember sowie 1. Januar.

Jens Hinrichsen

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