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Kultur: Wir sind das Leben und sonst gar nichts

Manchmal ist es ja erst die Reise in wildere Gefilde, die einen spüren läßt, wie sinnlich reduziert die Großstadt-Welt ist, die einen den Rest des Jahres beherbergt. Ähnlich kann es einem auch im Kino gehen.

Manchmal ist es ja erst die Reise in wildere Gefilde, die einen spüren läßt, wie sinnlich reduziert die Großstadt-Welt ist, die einen den Rest des Jahres beherbergt. Ähnlich kann es einem auch im Kino gehen. Man schaut. Vergleicht Hollywood mit Europa, den neuesten Film mit dem letzten. Und hat sich längst schon arrangiert. Plötzlich aber sind da Menschen auf der Leinwand, die kommen aus einer anderen Welt. Vergiß den ganzen Scheiß, scheinen sie zu rufen, die Falckenbergschülerinnen und Do-it-yourself-Stanislawskis. Wir sind das Leben. Der Rest ist Mache.

Nennen wir es die Attacke der gelebten Erfahrung auf die Kunst ihrer Vortäuschung. "Mutanten" nennt die portugiesische Regisseurin Teresa Villaverde ihre Protagonisten. Eigentlich wollte sie einen Dokumentarfilm drehen über Jugendliche in portugiesischen Erziehungsheimen. Das erwies sich als undurchführbar. Auch der Versuch, einen Spielfilm mit Darstellern aus eben jenen staatlichen Institutionen zu drehen, scheiterte am Veto der Behörden. Villaverde hat weitergesucht und am Ende ihre Darsteller doch gefunden, zwar nicht in den staatlichen, doch in ganz ähnlichen privaten Besserungsanstalten.

Die Zähigkeit hat sich gelohnt. Denn in diesem Film sind Gesichter zu sehen, wie sie mit dieser Intensität und in dieser Sperrigkeit im Kino kaum mehr vorkommen. Vom trotzigen Lebenswillen geprägte Gesichter, die zu Menschen voll Hilflosigkeit und Schwächen gehören, aber auch voll ungeheurer geheimer Energie. Manchmal erinnern sie an Pasolinis Vorstadtjungen, nicht nur, weil die Jungs auch hübsch sind, so hübsch, daß im Film zwei fette deutsche Pornoproduzenten versuchen, sie zu engagieren. Das Mädchen, Andreia, ist von einer ernsten Sprödigkeit, die bei Kinomädchen rar ist. Die Mutantengesichter sind die Hauptattraktion dieses Films, doch nicht die einzige. Da ist vor allem die Dramaturgie, eine mit langen Einstellungen und wenig Gegenschnitten. Der Zuschauer hat Gelegenheit, Menschen anzusehen. Es gibt Perspektiven, die die Widerständigkeit der Charaktere unterstützen. Ein Mädchenoberkörper auf einem Bahnwaggon, flach auf dem Rücken, und dann das Gesicht: den Blick in den Himmel gereckt, während unten die Welt vorbeirauscht.

Die Geschichte? Es sind eher Geschichten, Episoden vom Leben an den Rändern der Städte. Drangsalierungen. Kleine Fluchten und Rückkehr. Kriminelle Eskapaden und Ertapptwerden. Die Suche nach Liebe, die ins Leere oder auf Gewalt trifft. Die Mutter, zu der sich Andreia flüchtet, ist selbst zu schwach, um Hilfe anzubieten. Pedros Vater trinkt. Ricardo muß irgendwann unter Schlägen sterben. Und die kleinen Momente der Zusammengehörigkeit sind zu flüchtig, um Halt zu bieten.

Teresa Villaverde, die mit diesem Film ihren dritten Spielfilm realisiert hat, ist, Jahrgang 1966, wohl etwas über zehn Jahre älter als ihre Protagonisten. Sie sagt, es sei ihr bisher kühnster, freiester Film. Manchmal macht sie es uns ein bißchen schwer, in das Geflecht der Erzählstränge hineinzufinden, bis sich der Plot gen Ende dann ganz auf Andreia, ihre Flucht und Schwangerschaft konzentriert.

Da wird es dann doch noch einmal so melodramatisch, wie es gar nicht notwendig gewesen wäre. Eine furchterregende Geburtsszene auf einer Autobahntoilette. Eine blutend durch den Wald taumelnde Frau. Doch irgendwann liegt Andreia wieder rücklings auf einem Dach, diesmal ist es ein LKW, die Sonne glüht, und sie reckt ihr die Arme entgegen. Ein glückliches Ende ist das nicht, wir bleiben in ziemlich unbehaglicher Stimmung im Kinosessel zurück. Und den normalen Schauspielern - den werden wir erstmal nicht mehr glauben.

Hackesche Höfe und fsk (jeweils OmU)

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