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Kultur: Wir sind wir

Staatsschauspiel Dresden: Volker Löschs grandiose Volksversion von Büchners „Woyzeck“

Der Dresdner „Woyzeck“ kommt wie ein Sturm über das Publikum. Fast 40 Menschen bevölkern die Bühne und intonieren die Antworten von 529 Dresdner Theaterbesuchern, zugespitzt in Szenen, vermischt mit Auszügen aus Büchners „Woyzeck“. Auf der Bühne eine Idylle vor der Kuppel der Frauenkirche. Alles da: Fernsehecke, Bücherwand, Schrebergarten, Duschkabine, Obstbaum, Vogelhäuschen, ein gelbes Cabrio vor Rundhorizont. Es schneit. Alle wischen, reiben. Sauber soll es sein. Wir sind in einer Schneekugel. Da kommen wir nicht raus.

Drei Schauspieler spielen Tambourmajor, Marie, Woyzeck. Und der Dresdner Chor spielt dieselben und dazu Büchners andere Figuren. Erprobt seit der „Orestie“ und „Die Weber“, trainiert von Chorleiter Bernd Freytag, inszeniert, choreografiert von Regisseur Volker Lösch, läuft der Chor zu Höchstform auf. In schrecklich normaler Freizeitkleidung von Carola Reuther stehen, laufen, saufen sie, lügen und zerstören sie im traumhaften Bühnenbild von Cary Gayler.

Was bleibt von Büchners „Woyzeck“, geschrieben 1836, wenn er durchsetzt wird mit Meinungen von heute? Alles und noch mehr. Vor 169 Jahren wusste Büchner schon alles. Wirklich alles.

Auf der Bühne sind die Alten, die Jungen. Die Rentner, sind, scheint’s, zufrieden. In Badeanzug und Shorts ölen sie einander ein, kabbeln sich, legen sich auf ihre Handtücher. Laufen im Kreis mit Walking Sticks. Machen Picknick. Genießen ihr Leben auf Teufel komm raus. Erinnern sich wehmütig an die DDR. Singen. Als das „Sandmännchen“-Lied erklingt, geht ein Raunen durchs Publikum.

Die Jungen langweilen sich. Hängen vor dem Fernseher rum, lungern ums Cabrio. Von den Alten können sie nichts lernen. Die lügen sich was vor, über die Gegenwart und die Vergangenheit. Getrennte Welten, wie bei „Woyzeck“ die Saturierten und die Armen: die befriedeten Rentner und die unzufriedene Jugend. Woyzeck (Viktor Tremmel) ist der Außenseiter. Und Marie (Minna Wündrich), die Mutter seines Kindes? Sie nimmt sein bisschen Geld und läuft über zum Tambourmajor (Kai Roloff). Sie lässt sich kaufen mit silbernen Ohrringlein. Wie furchtbar allein ist Woyzeck mit Marie und dem Kinderwagen, was für ein trostloses Bild von der sprachlosen Unterschichtfamilie. Wie beeinflussbar ist Marie, ausgesetzt den rechtsextremen Sprüchen des Tambourmajors. Er fängt sie ein mit seiner Gitarre, verführt sie mit rechtsnationalen Songs, bis sie juchzend auf ihm reitet, im gelben Cabrio.

Die alten Männer stecken es Woyzeck. Jetzt hat er sein letztes Gut verloren, seine Marie. Die Tanzszene von Büchner, hier ist sie ein Kampftrinken. Woyzeck entdeckt Marie mit dem Tambourmajor, er rastet aus. Statt Zweikampf wird ihm Branntwein eingeflößt. Als er am Boden ist, fällt die entfesselte Gruppe über ihn her, taucht ihn unter, bis er beinahe ertrinkt. Jetzt ist er ausgelöscht, nichts ist mehr übrig vom Menschen Woyzeck, er wird zum Mörder. Und oben sitzen die Alten in der Wohnlandschaft und trinken Sekt. Furchtbar, beklemmend. Und beklemmend geht es weiter: Woyzeck hetzt Marie, zwischen den Menschen hindurch. Sie sehen stur vor sich hin, reden vor sich hin: „Kenne keine Ausländer in Dresden.“ „Gute Erfahrungen mit jungen, angepassten Ausländern.“ „Positiv: der Charme der italienischen Eis- und Pizzaverkäufer.“

Keiner dreht sich um, keiner greift ein. Bis Marie tot ist. Da greifen sie sich Woyzeck und stopfen ihn in den Kofferraum des Cabrios. Auf dem der Tambourmajor schon die Nächste küsst. Die anderen, jung wie alt, richten sich wieder ein in ihrer Scheinidylle. Der Chor tritt zum letzten Mal an die Rampe. Und Dresden ist nicht mehr so schön, wie es eingangs war.

Klingt nach Volkshochschulkurs zum Thema „Warum der Osten rechts wurde“? Nein, dieser „Woyzeck“ ist mitreißendes Theater. Nichts wird ausgelassen, nicht Bücherverbrennung, Lichterkette, Christiansens letzte Sendung, Staubsaugen, Hasch rauchen. Wir sind wir. „Wollt ihr das totale Lied?“ Die Alten haben ihr Leben im Griff, auch im vereinten Deutschland, obwohl sie einiges von damals vermissen, etwa den Endverbraucherpreis. Da musste man nicht dauernd Schnäppchen jagen. Ja, die Jagd. Nach Spaß, nach Glück, auf das Fremde, Störende, Andere.

„Zum Beschluß, meine lieben Zuhörer, laßt uns übers Kreuz pissen, damit ein Jud stirbt.“ Original Büchner. Dieser Dresdner „Woyzeck“ von Georg Büchner und 529 Dresdner Theaterbesuchern ist eine grandiose Revue über das Ankommen in der Spaßgesellschaft und trifft mit Wucht ins gesamtdeutsche Herz.

Wieder am 19., 27. und 28. Oktober

Ulrike Kahle-Steinweh

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