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125 Jahre Berliner Philharmoniker: Wir spielen für die Zuhörer von morgen

125 Jahre Berliner Philharmoniker: drei Musiker über die Seele ihres Ensembles und die Tücken der Orchesterdemokratie

Bei den Konzerten der Berliner Philharmoniker sieht es oft so aus, als würde das Orchester immer jünger.

PETER RIEGELBAUER: Es wird oft geschwärmt, unser Orchester sei so jung – a priori ist das aber keine Qualität. Wichtiger ist die Mischung der Generationen: Die Jungen bringen Elan und Neugier mit, die Älteren ihren Erfahrungsschatz.

RUDOLF WATZEL: Ich habe Meisterwerke wie Brahms’ Sinfonien mit Dirigenten wie Böhm, Keilberth, Karajan, Abbado, Barenboim, Harnoncourt und Thielemann gespielt und genieße es, aus diesem Fundus zu schöpfen. Das sind meine Jahresringe. Mich mit den jungen Kollegen auszutauschen, nonverbal, beim Spielen, das macht Spaß. So ging es mir ja auch, als ich 1968 ins Orchester kam. Von acht Kontrabassisten hatten sechs unter Furtwängler gespielt. Einige haben damals mächtig über Karajan geschimpft. Am Ende seiner Ära erlebte Karajan, was es bedeutet, wenn ein Orchester immer jünger wird und der Chefdirigent immer älter. Fast alle Musiker gingen mit 65 in den Ruhestand, er aber blieb. Das kann schon dramatisch werden.

RIEGELBAUER: Simon Rattle kam 2002, als der große Generationswechsel quasi abgeschlossen war. Er ist noch ziemlich jung. So können wir nun gemeinsam mit dem Chefdirigenten älter werden.

Wenn man das Probespiel bei den Berliner Philharmonikern bestanden hat, folgt eine lange Probezeit von zwei Jahren. Warum?

NABIL SHEHATA: Jedes andere Orchester verlangt nur ein Jahr. Am Anfang erschienen mir zwei Jahre sehr lang, aber man kann sich in der Zeit einfach besser präsentieren. Die Saison fängt im September an, im März müsste man schon abstimmen, das ist zu kurz.

RIEGELBAUER: Die Hürde liegt in der Tat sehr hoch: Ein Drittel der Kandidaten schafft die Probezeit nicht. Wenn man dann aber übernommen ist, wird man Teil der Gemeinschaft – und hat einen Job auf Lebenszeit. Ein großes Privileg.

Ein weiteres Privileg der Philharmoniker: Die Musiker entscheiden, wer dabei sein darf. Ich habe keinen Einfluss darauf, wer mit mir in einem Zimmer arbeitet.

WATZEL: Die Philharmoniker wurden als autonomer Musikerzusammenschluss gegründet. Darum steht als eines der ältesten Rechte in den Statuten, dass die Spieler ihre Kollegen selber auswählen. In den ersten 50 Jahren hatte das Orchester ja nicht mal einen Intendanten.

RIEGELBAUER: Alle deutschen Orchester haben dieses Verfahren mittlerweile übernommen. International sieht es anders aus: In Großbritannien und den USA haben die Orchester bei weitem nicht so starke Mitbestimmungsrechte.

Herr Shehata, bedeutet Ihnen der Name Karajan noch etwas?

SHEHATA: Bis Mitte der Neunziger hatte ich noch nicht einmal von den Berliner Philharmonikern etwas gehört. Ich bin in Norddeutschland aufgewachsen, in Verden. Inzwischen habe ich viele Karajan-Aufnahmen zu Hause.

RIEGELBAUER: Das Geheimnis der Philharmoniker liegt darin begründet, dass man hier als junger Musiker etwas mitbekommt von Dirigenten wie Karajan oder Furtwängler. Bestimmte Auffassungen, Spieltechniken und Klänge, ein bestimmtes Reagieren des Orchesters sind über Generationen weitergetragen worden. Diese 125 Jahre sind präsent. Rudi Watzel ist fast vierzig Jahre dabei, also beinahe ein Drittel der Gesamtzeit.

WATZEL: Entscheidend ist, dass ein Orchester Charakter besitzt. In München, wo ich vorher war, wurde vorne an den ersten Pulten gespielt, hinten hat man geschaut, dass man irgendwie mitkommt. In Berlin kam ich in die erste Probe und war total geschockt, denn die beiden Kollegen vor mir – also die am letzten Pult der Celli – spielten wie um ihr Leben. Durch diese Leidenschaft jedes Einzelnen kommt es zu dem besonderen Philharmoniker-Klang.

Was ist durch Simon Rattle an den Philharmonikern moderner geworden?

RIEGELBAUER: Medial wird unsere Education-Arbeit stark wahrgenommen. Das war für uns etwas Neues, was Rattle mit Vehemenz gefordert und gefördert hat.

WATZEL: Außerdem hat er uns bei seinem Amtsantritt klargemacht, dass es keine Selbstverständlichkeit ist, was wir hier tun, dass wir der Gesellschaft verpflichtet sind. Es ist kein Urgesetz, dass klassische Musik in den kommenden 125 Jahren denselben Stellenwert haben wird wie in den letzten 125 Jahren. Claudio Abbado hat da einen anderen Fokus. Ihn interessieren vor allem junge Eliten, die Nachwuchsprofis. Rattle dagegen will den Zuhörer von morgen gewinnen.

RIEGELBAUER: Und er will nicht hinnehmen, dass Sinfonieorchester immer stärker auf das romantische Kernrepertoire reduziert werden, nur weil es so viele spezialisierte Klangkörper gibt, im Bereich der Vorklassik oder bei der zeitgenössischen Musik. Dagegen müssen wir arbeiten. Unser Ziel ist es, die Ränder des Repertoires zurückzuerobern und das ganze Spektrum der Musikgeschichte kompetent zu präsentieren.

Sie verstehen sich als Orchesterdemokratie. Was genau bedeutet das?

WATZEL: Die Demokratie verlangt vom Einzelnen, dass er sich einerseits einbringt, andererseits den Mitmenschen gegenüber Respekt zeigt. Eine Gruppe kann in der Demokratie nur überleben, wenn sie Mehrheitsentscheidungen akzeptiert, die ja keine Wahrheitsentscheidungen sind. Die Unterlegenen müssen das Abstimmungsergebnis hinnehmen. Das setzt einen großen Reifegrad voraus und Verantwortungsbewusstsein. Unsere Strukturen sind vielleicht ein bisschen anstrengend, aber genau richtig.

RIEGELBAUER: Es geht nicht nur um Mitbestimmung, sondern auch um Mitverantwortung. Ich freue mich, dass sich ein Bewusstsein im Orchester etabliert, dass wir seit der Umwandlung in eine Stiftung eigenverantwortlich sind: Wir sind keine gewöhnlichen Arbeitnehmer, wir gehören uns selbst. Unsere Zukunft liegt in unserer Hand.

So richtige Lust, das 125. Gründungsjubiläum zu feiern, scheinen die Philharmoniker aber nicht zu haben.

WATZEL: Es kommen immerhin zwei großartige Bücher heraus. Unter anderem wird die Geschichte des Orchesters zwischen 1933 und 1945 erstmals umfassend aufgearbeitet …

… und am 4. November gibt es ein Kammermusikfest in allen Räumen der Philharmonie. Warum gibt es keine Open-Air-Jubelfeier, bei der Rattle, Abbado und Barenboim die Philharmoniker dirigieren?

WATZEL: Vielleicht ist das alles tatsächlich ein wenig zu bescheiden ausgefallen.

RIEGELBAUER: Ab der kommenden Saison werden wir über mehrere Jahre hinweg alle fünf Erdteile bereisen, inklusive Tourneen nach Afrika und Australien, wo das Orchester noch nie war. So kann die ganze Welt mit uns feiern.

Das Gespräch führte Frederik Hanssen.

Peter Riegelbauer (li.), Jg. 1956, gehört seit 1980 zum Ensemble und ist seit 1997 Orchestervorstand.

Rudolf Watzel (Mitte, Jg. 1943) ist bereits seit 1968 dabei.

Nabil Shehata , Jg. 1980, geboren in Kuwait, ist seit dieser Saison Solo-Kontrabassist.

Der 1. Mai 1882 war der Gründungstag der Berliner Philharmoniker .

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