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Kultur: Wir sprechen uns wieder

Wie das Neue in die Welt kommt – und das Alte zur Provokation wird. Eine Spurensuche

Zur Jahreswende am Berliner Lietzensee. Ein gut Zehnjähriger und ein langmähniger schlanker Mann, wohl sein Vater, kämpfen miteinander. Mit richtigen Boxhandschuhen. Solche Boxhandschuhe, die sind schon eine Seltenheit im familiären Park. Wir kommen näher, sehen die beiden im Fight, der Junge ist noch recht ungeschickt mit den übergroßen tollen Dingern über seinen Kinderfäusten. Wahrscheinlich ein Weihnachtsgeschenk. Da dreht sich der Langmähnige um und ist eine Frau. Eine Frau, eine ziemlich attraktive junge Mutter, als Boxerin. „Fäuste hoch, mehr Deckung“, ruft sie, „nicht so schlapp wie der Axel Schulz!“

Das Neujahr soll auch im Leben das Neue einläuten. Von neuen Steuern abgesehen, wünscht zum Jahresanfang kaum jemand das Alte zurück. Alles auf neu, obwohl das meiste beim Alten bleibt und die Zukunft vielen nicht mehr geheuer ist. Was aber erscheint uns überhaupt noch als neu im beschleunigten Fluss, als verändernde Erfahrung – wenn das Neue mehr sein soll als eine schnell verbrauchte Neuigkeit oder nur eine Variante des Alten?

Natürlich gibt es schon länger boxende Frauen, bis hin zu Weltmeisterschaften oder Wetten im Fernsehen. Die boxende Mutter im Park aber war für den Spaziergänger etwas noch nie Gesehenes. Eine winzige alltagskulturelle Zäsur: in der unmittelbaren Wirkung stärker sogar als die schon erwartbare Vermehrung der weiblichen Fans bei der Fußball-WM. Kurz vor Silvester – auf den ersten Blick nochmals Alltag: Eine Straßenkreuzung mitten in Berlin, vielspuriger Verkehr, und jeweils erst im letzten Moment erkennen die Autofahrer, dass die Ampeln aus sind; dass Polizisten als leibhaftige Ampelmännchen auf der riesigen, zugigen Kreuzung stehen. Sofort droht hier das Chaos. Meist verdrängen wir das. Heute aber schauen wir genauer hin.

Erinnern uns, ein paar Jahrzehnte nur, da brauste und staute sich in den westlichen Städten auch schon der Großstadtverkehr – damals war der Verkehrspolizist als Dirigent mittendrin noch eine Selbstverständlichkeit. Doch inzwischen wirkt das Alte wie etwas beunruhigend Neues: die Wiederkehr einer noch nicht gänzlich automatisierten Moderne. Die Verkehrsflut zeigt plötzlich ihr vorsintflutliches Gesicht.

In den Künsten ist heute der Schock des Neuen, den bereits die Avantgarde der Romantik im Widerspiel mit dem Alten, mit dem mythisch Vorvernünftigen für sich reklamierte, der fast schon älteste Hut. In der muslimischen Welt mögen Skandale des Säkularen und der Entheiligung noch verfangen. Im aufgeklärten Westen sind die Salons (und zumindest die deutschen Opernhäuser) gestürmt, und die Kirche ist kein Richter mehr über die Freiheit der Kunst. Doch schon bei den Revoluzzern des 20. Jahrhunderts gab es den doppelten Zweifel: Einerseits befand man, Dada ist nicht genug. Da blieb dem Künstler nur noch die politische Revolution, die ihm, ob rechts oder links, nie richtig bekam. Pop und Pille waren dann wirklich neu, und die Frau dank befreitem Kopf und befreitem Körper ist wohl die wahre, letzte Revolutionärin.

Aber Marcel Duchamp, der Mann der Moderne, dekretierte als skeptischer Surrealist schon früh gegen allen Innovationswahn: „In der Kunst gibt es so wenig Fortschritt wie in der Sexualität.“ Duchamp meinte, solange den Menschen (der eine relativ alte Erfindung ist) nur die alten Grundthemen wie Krieg und Frieden, Liebe und Hass bewegen, könne es bestenfalls technische Neuerungen geben. Zwar hatte die Kunst schon immer die vierte Dimension der Einbildungskraft und spielte mit der Relativität von Zeit und Raum. Doch sind die zivilisatorisch und lebenskulturell eingreifenden Erfindungen seit langem abgedriftet ins Reich der Naturwissenschaften.

Für die ästhetische Produktion ergibt das wie fast alle Weltveränderung bloß thematische Varianten und symbolische Annäherungen. Im Prinzip sähe sich ein Roman, ein Gemälde oder ein Film, hörte sich eine Musik heute wohl kaum anders an, wenn es die Kernspaltung nicht gegeben hätte. Joyce, Kandinsky und Schönberg waren schon vor der Bombe. Etwas anderes bedeutet Auschwitz: als neue, in der Geschichte der Genozide und des Menschenmöglichen bisher unübergehbare anthropologische Erfahrung. In den Alltag der Künste jedoch haben jenseits von tausend modischen, oberflächigen Veränderungen nur wenige technologische Neuerungen einschneidend eingewirkt. Sogar die Digitalisierung, der Computer, das Internet schaffen trotz Videoboom, Vercyberung und der Steigerung interaktiver Kommunikation noch kein „second life“, keine ästhetisch völlig umwälzende, etwa den Sensationen der Renaissance vergleichbare Neuformulierung der Kunst.

Merkwürdigerweise sind Computer als Handlungselemente, obwohl seit Jahren in Filmen gegenwärtig, für das Kino überwiegend nur ein Abbild der sozialen, wirtschaftlichen Realität geblieben, mit allen märchenmöglichen Übersteigerungen, hinein ins ehrwürdige Genre der Science-Fiction. Computer sind im Kino letztlich nicht mehr als normale Requisiten des technologischen Zeitalters. Kein neuerer, heutiger Rechner hat je die Faszination einer künstlichen Intelligenz so stark entfacht wie ein technischer Dinosaurier, der Urgroßvater aller digitalen Mitspieler: HAL 9000, jener einäugige Computer in Stanley Kubricks bald 40 Jahre alter „Odyssee 2001“.

Eine Ausnahme anderer Art bildet die menschenähnliche oder schimärenhafte Animation von Personen, die wie reale Schauspieler agieren. Die Technologie lässt hier nicht nur die Gegenwesen im „Herrn der Ringe“ zu, sie macht auch erst die groteske, blutige Ausgeburt des Geruchsgenies Grenouille möglich, kaum dass er in der „Parfum“-Verfilmung mitten auf dem Pariser Fischmarkt aus dem Mutterschoß kriecht. Wie animierte Kunstgeburten erscheinen heute auch die am Computer nachkolorierten Menschen in alten Filmen. Auf einmal sehen wir Stummfilmkomiker wie Stan Laurel und Oliver Hardy in Farbe, als seien sie bis in die letzte Hautpore Untote, Wiedergeborene aus frischem Fleisch und Blut. Schlimmer noch, weil als Fake nicht gekennzeichnet, ist indes die koloristische Ausmalung historischer Dokumente. Mittlerweile marschieren die Nazis, allen voran der Führer Adolf, in Filmen oder auf Fotografien so bunt und lebensnah durch Fernsehen und Magazine, als seien alle Guido Knopps schon vor 1945 dabei gewesen.

Der wahre Schock des Neuen – als Wiederkehr des Alten – ist jedoch noch Zukunft. Obwohl technisch längst möglich: die Reanimation von Toten in neuen Rollen. Sind einmal die Persönlichkeitsrechte und möglichen Erbenansprüche geklärt oder werden sie einfach missachtet, dann können Chaplin und die Monroe, Humphrey Bogart, Romy Schneider und überhaupt alle Superstars wieder auftreten (auch Hitler und Stalin). Aus den Pixeln ihrer alten Filmbilder, aus ihren überlieferten Tönen digital neu zusammengesetzt, täuschend echt redend, liebend, mordend, tanzend – das Kino endlich ein Zirkus der Zombies. Der filmische Sieg des Klons.

Bisher, so scheint es, gibt es im Kino und in den Erzählungen der Massenmedien allerdings nur einen völligen Sieg des Neuen. Eine echte Zäsur. Autos und Flugzeuge waren schon im Bild, als diese laufen lernten. Computer, das hatten wir schon. Aber dann kam das Handy. Dieser längst banale Alltagsgegenstand lässt Filme tatsächlich wie geisterhaft altern. Auf der Leinwand, wo unheimlich oft zum Hörer gegriffen wird („Bei Anruf Mord“), hatte das Telefonieren zunächst die alte Theaterdramaturgie intriganter, glückbringender oder fehlgehender Briefe (Schiller und Ibsen) abgelöst.

Ob Börsen, Broker, globale Computergeschäfte und Michael Douglas im Wolkenkratzerbüro in „Wall Street“ (von 1987) oder gar das Weiße Haus, die Air Force One von innen und Clint Eastwood mit allem Hightechschnickschnack „In the Line of Fire“ (1993), ob James Bond mit Pierre Brosnan in den hypervirtuellen Welten des „Golden Eye“ (1994): Die Reichen, Mächtigen oder Bösen hingen auch als weltumspannende Strippenzieher mit ihren Tastaturen und roten Telefonen immer an der kurzen Festnetzstrippe. Der Erpresseranruf aus halbdunklen Appartements, die schweißtreibende Jagd nach Telefonzellen, Münzen und Chips, all das hat Krimis und Romanzen über Jahrzehnte mehr und selbstverständlicher bestimmt als wechselnde Frisuren oder Autotypen. Spätestens seit auch Hollywood mobil telefoniert, wirkt der Kampf in der Telefonzelle sonderbar museal. Immer noch schön, aber anders, als wenn eine toupierte Blondine im 54er Chevy durchs Bild fährt. Das eine weckt Nostalgie, das andere macht älter.

Plötzlich sehen die Menschen beim Telefonieren an festen Apparaten wie von der Zeit Befallene aus, wie Sterbliche. Sogar unsterbliche Filmstars. Kein Wunder, werden viele Jüngere denken, die haben damals in den Filmen ja fast alle geraucht, selbst wenn sie telefonierten! – Auch da gibt’s eine Zäsur, beginnt eine neue Geschichte. Vom Altwerden, überwacht.

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