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Kultur: Wir Trüffelschweine

Theatertreffen: Der Stückemarkt setzt auf Tragödien

Der Boden kommt immer näher. Köpfe kippen auf Sitzkissen. Augen werden klein, gähnende Rachen groß. Es ist kurz vor Mitternacht. Während die Müdigkeit listig um sich greift und das Publikum in die Knie zwingt, geht der Stückemarkt des Berliner Theatertreffens in die letzte Runde. Mit der Präsentation des Dramatikerworkshops spielen sich in der Kassenhalle im Haus der Berliner Festspiele Tragödien ab, versanden adoleszente Revolutionen im Suff und explodieren Menschen scheinbar grundlos. Und plötzlich ahnt man, wie es sein muss, als Juror beim Stückemarkt zu fungieren.

Seit 1978 werden fünf neue dramatische Texte in szenischen Lesungen präsentiert. An fünf weiteren Stücken wird seit 2004 gemeinsam mit den Autoren im Dramatikerworkshop gearbeitet. Zwei der Texte werden am Ende mit Förderpreisen prämiert. Bis es soweit ist, graben sich fünf Juroren wie Trüffelschweine durch die Manuskripte. 646 Texte aus 33 europäischen Ländern gab es in diesem Jahr für Nuran David Calis, Viola Hasselberg, Dea Loher, Iris Laufenberg und Koen Tachelet zu sichten.

Dea Lohers Essay „Über Hindernisse“ gibt beredtes Zeugnis von den Mühen der Lektüre: „Ungefähr sieben Kilo Papier schleppte ich auf dem Rücken in die italienische Silvesterpause. Während sich die Freunde ihre Nächte in lustigen Bars um die Ohren schlugen, saß ich in der schlecht beheizten Wohnung und las. Und las. Und las am Morgen weiter, während die Begeisterung für die Lektüre der Stücke auf meinem Tisch oft zusehends abflaute.“ Vielleicht lauert im Bild der Lektorin, die den Rucksack voller fremder Hoffnungen hat, ein spannenderer Stoff als in manchem eingereichten Stück. Zudem spricht aus ihren Worten das, was die aktuelle Produktion oft vermissen lässt: Humor.

Wenn es doch einmal Anlass zum Lachen gab, dann wegen einer aus Verzweiflung geborenen Situationskomik. Sie prägt vor allem den Text des 1960 geborenen russischen Autors Sergej Medwedew. „Die Friseuse“, szenisch eingerichtet von Florian Fiedler, gehörte zum Stärksten dieses Stückemarkt-Jahrgangs. Die Titelheldin Irina (bezaubernd: Birgit Minichmayr) brennt. Erst aus Liebe, dann weil ihr Geliebter sie mit Benzin übergießt und anzündet. Sie überlebt. Und liebt ihn weiter. Der Eigensinn und die selbstzerstörerische Bedingungslosigkeit, mit der diese Frau ihre Sehnsucht hätschelt, löst Befremden aus und nötigt dem Zuschauer schamvollen Respekt ab.

Während Medwedews Stück im kommenden Jahr von Deutschlandradio Kultur als Hörspiel produziert wird, ging der Förderpreis für neue Dramatik, dotiert mit 5000 Euro sowie verbunden mit einer Aufführung am Maxim Gorki Theater, an den 1959 in Antwerpen geborenen Klaas Tindemans. Sein Stück „Bulger“ basiert auf einem authentischen Fall. 1993 hatten zwei zehnjährige Jungen in Liverpool einen Zweijährigen aus einem Einkaufszentrum entführt und getötet. Tindemans Text dämonisiert die Tat nicht, sondern nimmt versuchsweise die Perspektive der Kinder ein – im Stück sind es zwei Mädchen und ein Junge. In deren Welt verschwimmen die Grenzen zwischen Gut und Böse: Gewaltfantasien und Wirklichkeit gehen auf beunruhigende Weise ineinander über.

Es ist gewiss nicht leicht, „Bulger“ zu inszenieren. Besetzt man die Kinder, wie Johan Simons bei seiner Bearbeitung, mit Erwachsenen, die mit verstellten Stimmen sprechen, läuft das Stück Gefahr, zum enervierenden Aufklärungstheater zu mutieren.

Kerstin Roose

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