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Kultur: Wo der Berg predigt

Davide Longo versucht in seinem Roman „Der Steingänger“ die Welt wieder in ihren Urzustand zu versetzen

Nach genau vier Sätzen kommt dieser beeindruckende Roman auf sein ästhetisches Programm. Da heißt es über die Hauptfigur Cesare, die gerade am Fenster steht und die Abenddämmerung auf den Bergkämmen betrachtet: „Er schob sich ein Stück Brot mit Käse in den Mund und kaute so lange, bis der Käse wieder zu Milch, bis das Brot wieder zu Getreide wurde.“ Der 1971 geborene italienische Autor Davide Longo arbeitet in „Der Steingänger“ an der Rückverwandlung der Welt: So wie Brot und Käse in der Fantasie des Autors beim Kauen wieder in ihre Ursprungssubstanzen überführt werden, so wird der Emotionshaushalt der Figuren von allen ambivalenten Verästelungen befreit und auf so Archaisches wie Liebe, Trauer, Hass und Eifersucht zurückgestutzt. Und so wird die Zeit von ihrem linearen Vorwärts in eine vormoderne, quasi mythische Kreisform zurückgebogen.

„Der Steingänger“ ist zwar ein Roman mit allem, was dazu gehört: Ein Mord geschieht und wird aufgeklärt, Männer und Frauen kommen zueinander und trennen sich wieder, wir begleiten afrikanische Flüchtlinge von einer Holzhütte bis zu einem LKW, der sie über die Grenze nach Frankreich bringt. Aber das ist sozusagen nur das Gewand dieses Buches, das in Wahrheit ein Gottesdienst ist, der in kargen, klaren Worten die Ewigkeit einer Berglandschaft feiert. Hier wird nicht viel geredet. Für das Eigentliche (dass der Mensch leider kein Stein ist, dafür aber kleiner als das Schicksal) gibt es ohnehin keine Sprache. Stattdessen wird ausgiebig aus dem Fenster geschaut, gewartet, manchmal wie selbstverständlich berührt, viel geraucht und noch mehr gegangen. Satz für Satz schreitet der Leser durch dieses Buch und fühlt sich am Ende wie nach einer langen Wanderung, rechtschaffen schwer und ruhig und glücklich.

Die Handlung spielt in einem Dorf im Piemont in der Nähe der französischen Grenze, in dem „Generationen von Männern und Frauen das Brot selbst gebacken, den harten Wintern getrotzt und Kinder großgezogen“ haben, die „einmal genau dasselbe tun würden“. Aber das ist lange vorbei. Nach dem Krieg waren die meisten nach Frankreich oder Argentinien ausgewandert, und jetzt sehen die leeren Häuser aus wie „einzelne Schuhe“.

Auch Cesare war nach Frankreich gezogen, kam nach einer kurzen Matrosenlaufbahn aber zurück, um wie sein Onkel das Gewerbe des Schleusers auszuüben. Zusammen mit Fausto führte er Flüchtlinge über die Berge nach Frankreich, setzte sich nach einem Streit mit seinem Kollegen aber zur Ruhe und schnitzt seitdem Holzfiguren. Nun ist Fausto umgebracht worden, und der erste Verdacht fällt auf Cesare. Es dauert lange, bis man begreift, wer mit wem was gemacht hat. Die Tätigkeit des Schleusers war in dem Dorf so selbstverständlich wie das Schreinerhandwerk, aber gesprochen wurde darüber nicht. Als die Ermittlungen beginnen, schweigt das ganze Dorf.

Das Undurchsichtige liegt aber auch an Longos Schreiben. Er meidet Erläuterungen, schneidet ohne Übergänge von einer Hütte zur Dorfkneipe, vom Bergkamm ins Innere eines Jeeps. Die Figuren werden kaum eingeführt, sondern sollen aus sich heraus sprechen: weniger durch das, was sie sagen als durch das, was sie tun. Je klarer sich die Konturen des Geschehenen abzeichnen, desto stärker tritt hinter dem Verschweigen ein zweites Schweigen hervor. Die Stille der Landschaft selbst, in der sich Cesare mit der Sicherheit und Ruhe eines Bergführers bewegt. Seit dem Tod seiner Frau lebt er nur mit seiner Hündin zusammen, die bald von ominösen Unbekannten als Warnung getötet wird. Es bleiben Cesare und die Einsamkeit der Dinge. „Die einzigen Laute aus dem Tal waren das Glucksen des weißen Schaumes, der sich zwischen Steinen im Kiesbett aufbäumte, und der Ruf einer Eule aus dem Wald, die die Nacht ankündigte.“ Die schönsten Passagen des Buches sind die, in denen Longo die Handlung stagnieren lässt und Cesare ganz in seinem Element zeigt: Wie er sich bückt, um die Stiefel zu schnüren oder nach einem Stein greift. Wie er eine Mahlzeit zubereitet und isst, „ohne jede Hast, denn einem Sprichwort zufolge waren langsames Essen und Weggehen miteinander verheiratet, und so war das ein famoses Bündnis.“ Wie er schließlich – als die Schlinge um ihn herum immer enger wird – ein Messer in die Tasche steckt, um zu seinem letzten Auftrag aufzubrechen: Da wird in Longos reifem Blick die Stille greifbar wie ein Gegenstand, und in jeder Geste liegt das Wissen von Jahrhunderten.

Davide Longo: Der Steingänger. Roman. Aus dem Italienischen von Suse Vetterlein. Wagenbach Verlag, Berlin 2007. 170 Seiten, 17,50 €.

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