zum Hauptinhalt

Kultur: Wo gesungen wird, da lass dich ruhig nieder

Erweiterung des Musik-Kanons mit anderen Mitteln: Beim Popchor klingen auch Rap-Hits und New-Wave-Klassiker plötzlich sakral

Von Christian Schröder

Kapitalismuskritik hat wahrscheinlich niemals charmanter geklungen. Es beginnt mit einigen Altstimmen, die ihre Textzeilen eher summen als singen: „Days of innocence all long gone / Avoid the shock baby and try to live on.“ Ein langgezogenes „Aahaahaahaa“ hallt zwischen den Strophen durch den Raum, dann steigen auch Sopran und Bariton ein: „Distasteful, ugly and cheap / That is how you make me feel.“ Erst acht, dann vierzehn, dann zwanzig Münder, die eben noch harmonische „O“s geformt hatten, als wollten sie die Vokale küssen, werden nun eckig aufgerissen, sie skandieren bellend den Refrain: „Capitalism stole / Capitalism stole / Capitalism stole my virginity.“ Die letzten Töne bleiben drei, vier Sekunden unter der Decke hängen, dann winkt die Dirigentin mit einem horizontalen Handkantenschlag ab: „Vielen Dank, ihr müsst bitte noch etwas nuancierter ansetzen, jedes Wort einzeln betonen.“ Denn die Botschaft des Stückes soll auf keinen Fall zersungen werden: Der Kapitalismus erniedrigt und beleidigt die Menschen, er verwandelt stolze Individuen in lohnabhängige Sklaven.

Man mag vom schlichten Weltbild der schwedischen Anti-Globalisierungs-Punkband The (International) Noise Conspiracy halten, was man will, ihr Underground-Hit „Capitalism Stole My Virginity“ hat Ohrwurmqualität. Jedenfalls dann, wenn er vom Berliner Popchor interpretiert wird. Chorprobe in der Baracke des Deutschen Theaters. Obwohl in zwei Tagen ein Konzert ansteht, bei dem die gerade erschienene Debüt-CD vorgestellt werden soll, liegt eine entspannte Gelassenheit über dem schwarz ausgepinselten Saal. Ein mitgebrachter Hund stromert herum, auf dem Schoß einer Altistin hockt ein blondes Töchterchen und plärrt: „Mama, ihr sollt die Teletubbies singen!“ Die Sängerinnen und Sänger haben sich im lockeren Halbkreis um die Leiterin gruppiert, einige sitzen auf Stühlen, andere stehen konzentriert mit auf dem Rücken gekreuzten Armen da, ein paar wiegen ihre Körper beim Singen zu den tackernden Plastikrhythmen, die der Beatbox am Keyboard der Dirigentin entströmen.

Man könnte glauben, hier herrsche die pure Anarchie, aber der Popchor ist einfach ein Vokalensemble der anderen Art. Almut Klotz – auf ihrem T-Shirt prangt „Leitung“ - hat die Lage jederzeit im Griff. Während sie mit ihrer linken Hand ins Keyboard greift, um ein paar Akkorde vorzugeben oder ein kurzes Zwischensolo zu spielen, steuert sie mit der rechten Hand in präzisen Gesten das An- und Abschwellen des Klangkörpers. Der Popchor existiert seit fast anderthalb Jahren, in allwöchentlichen Proben, die zunächst in der Maria am Ostbahnhof und seit deren Schließung in der Baracke stattfanden, hat er sich eine gewisse Repertoire-Sicherheit erarbeitet. Aber das Ohr der Dirigentin registriert auch kleinere Abweichungen vom Idealklang. „Ihr müsst die Töne gleich von oben holen“, sagt sie dann, oder „Können wir die Männerstimmen noch einmal hören!?“ Weil die technische Ausstattung des Probenraums bescheiden ist, ist Improvisation gefragt. Es gibt keinen CD-Player, mit dem die Sängerinnen und Sänger das Playback hören könnten, das die Band Mina gerade für die Suizid-Hymne „Sweet Young Thing Ain’t Sweet No More“ von den US-Grundge-Rockern Mudhoney abgeliefert haben, einem Neuzugang in der Playlist des Popchors. Also fährt eine Sängerin einfach ihren Wagen an den Eingang, legt die CD in der Autoanlage ein, und die Kolleginnen und Kollegen versammeln sich am offenen Kofferraum um die Boxen. Einhelliges Urteil nach dem Hörtest: „Super Nummer!“

Zwei Stunden vor der Probe erscheint Almut Klotz sozusagen noch in Zivilkleidung zum Interview. Das T-Shirt mit der Aufschrift „Leitung“ ist für Chorauftritte reserviert, es gibt auch Exemplare, auf denen „Alt“, „Sopran“ oder „Bariton“ steht. Nun aber trägt sie ein T–Shirt, das im Nacken abgewetzt ist, vorne kann man „Nur weil wir keine Ausbildung haben, machen wir den ganzen Scheiß“ lesen, einen Slogan der Lassie Singers, mit denen Klotz fast einmal ein Popstar geworden wäre. Sie nimmt einen Bissen von ihrem Schnitzel und erzählt dann von der „Band-Müdigkeit“, die sich nach anderthalb Jahrzehnten im Pop-Business eingestellt hätte, nach vier Alben und dem Beinahe-Durchbruch mit den Lassie Singers sowie der anschließenden Zeit bei Parole Trixi und Maxi unter Menschen.

„Demokratie in einer Band ist schwierig, allein schon einen Probetermin zu finden, war oft unendlich anstrengend.“ Am liebsten hätte sie ein Duo gegründet, „da hätte ich mich nur auf einen Menschen einstellen müssen“. Aber statt diesem einen fand die Mittdreißigerin in ihrem Bekanntenkreis gleich etliche Menschen, die ein latentes Musizierbedürfnis hatten. Die Idee, gemeinsam zu singen, war naheliegend, zumal Klotz seit frühesten Jugendtagen, in denen sie mit einem Schwarzwälder Kinderchor aufgetreten war, ein Faible für Chöre besitzt. Zur ersten Probe traf sich der Popchor im Mai 2001, das erste Konzert fand im Dezember statt. Rund dreißig Mitglieder gehören zum harten Kern, die meisten entstammen der Um-die-30-Generation und verdienen, „ich sag es ungern“ (Klotz), ihr Geld in der Kultur- oder Medienbranche, als Journalisten, Web-Designer oder Theaterdramaturgen, es gibt aber auch eine Steuerberaterin im Ensemble. Und eines war beim Popchor von Anfang an klar: „Ich bin die Chefin“, sagt Klotz.

Was nicht heißen soll, dass sie den Chor gegründet hat, um einen autoritären Charakter auszuleben, aber es gibt Dinge, bei denen die Dirigentin diktatorisch sein kann: bei der Programmauswahl zum Beispiel. „Das sind alles Lieblingsstücke, und wir singen sie überhaupt nicht ironisch, sondern als Hommage an die Originale“, versichert sie. Die Übertragung in Chor-Arrangements ist schon Verfremdung genug, selbst durch eine kühle New-Wave-Nummer wie Devos „Mongoloid“ weht in der Popchor-Interpretation plötzlich ein Hauch Sakralität, und Missy Elliots Rap-Hit „4 My People“ verwandelt sich zum leicht bizarren Gospel-Glaubensbekenntnis. A-Capella-Choräle, glaubt Klotz, „gehen einem auf Dauer auf die Nerven“, darum haben befreundete Elektro-Musiker von den Vermoosten Vloten bis zu Schneider tm Playbacks gefertigt. Die Playbacks funktionieren wie ein „rhythmisches Rückgrat“ (Klotz), um die die Chorstimmen orntal herumwuchern können. Bei einem Konzert in Hamburg zeigte sich sogar Blumfeld-Sänger Jochen Distelmeyer von den Fertigkeiten des Chors beeindruckt, aber einen Traum wird sich die Gruppe wohl nie erfüllen können: auf Tour zu gehen. Einen Veranstalter zu finden, der gleich 25 Hotelbetten bezahlt, dürfte unmöglich sein.

Stimmen. „Unsere Botschaft ist, dass Chöre nicht nur etwas für Rentner sind“ (Frank Sommer, Bariton). „Die bewusstseinserweiternde Kraft des Chorgesangs ist nicht zu unterschätzen“ (Petra Weckel, Sopran). „Chorsingen ist eine angenehme Art von 15 Minuten Ruhm. Wenn man mal falsch singt, sind immer noch 25 andere da, die auch einen Fehler gemacht haben könnten“ (Kathrin Passig, Alt)

Record Release Party am Freitag in der Kammerbar des Deutschen Theaters, 22 Uhr.

NAME

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false