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Das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin.

© dpa

Wohin Hass führen kann: Der Absturz der Zivilisation

Die Schoah ist kein „Bruch“, wie es häufig in Gedenkreden heißt. Sie markiert ein Ende. Ein Vorabdruck aus dem Buch „Kleine Geschichte des Antisemitismus“.

Erst mit der am 8. und 9. Mai 1945 in Kraft getretenen Kapitulation fand das Morden ein Ende. Die Schätzungen der Gesamtzahl der ermordeten Juden schwanken zwischen fünf und sechs Millionen. Damit kommt zwar nicht die Geschichte des Antisemitismus, wohl aber die Geschichte seiner denkbar schrecklichsten Steigerung an ihr Ende: mit der Vernichtung fast des ganzen europäischen Judentums. Entscheidend für eine irgendwie nachvollziehbare Beurteilung dieses weder emotional zu ertragenden noch rational zu erklärenden „Geschehens“ ist gewiss nicht die absolute Zahl der Ermordeten, sondern sind verschiedene Faktoren, die alle ineinandergreifen.

Die Ermordeten sind keine Kriegsopfer

Zunächst ist festzuhalten, dass die Opfer der Schoah nicht einfach unter „Kriegsfolgen“ abzuhandeln sind, gewissermaßen als Kollateralschäden eines für alle Beteiligten schrecklichen Krieges – wie dies bis heute immer noch vorgebracht wird –, sondern dass die deutschen und europäischen Juden in letzter Konsequenz deswegen umgebracht wurden, weil sie Juden waren.

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Dabei spielen verschiedene, historisch gewachsene Facetten der antisemitischen Vorurteile und Stereotype eine Rolle, die alle für sich genommen schon tödlich sein können und ganz besonders in ihrer Bündelung. Entscheidend ist aber die unerträgliche Zuspitzung des Antisemitismus der Schoah auf sein grundlegendes und ältestes Element, wie es schon im biblischen Buch Esther dem Grosswesir des persischen Königs in den Mund gelegt wird: Die Juden als Juden sind nicht wie wir, sie sind anders als wir, sie sind keine Menschen und stehen außerhalb der generell akzeptierten Normen des Menschengeschlechtes; als solche unterwandern und verseuchen sie uns mit ihrer Fremdheit und ihrer Abartigkeit. Da sie niemals so wie wir werden können oder auch nur wollen, besteht das einzige Mittel, sich ihrer zu erwehren, darin, sie allesamt – Männer, Frauen und Kinder – mit Stumpf und Stiel auszurotten.

Vom Generalverdacht zur tödlichen Waffe

Dieser seit der Antike bekannte Generalverdacht des Antisemitismus wurde vor allem durch seine in weiten Kreisen akzeptierte rassistische Untermauerung in die tödliche Waffe verwandelt, als die sie in der Schoah benutzt wurde. Dies soll aber nicht heißen, dass es erst der Rassismus ist, der allein das Wesen des nationalsozialistischen Antisemitismus ausmacht. Dagegen spricht nicht zuletzt, dass alle weiteren in der Geschichte virulent gewordenen Facetten des Antisemitismus auch in seiner bisher folgenschwersten Ausprägung weiterwirkten, ja sich gegenseitig potenzierten.

Dies gilt ganz besonders für die durch das Christentum begründeten Stereotype und Vorurteile. Zwar war der NS-Staat alles andere als ein christlicher Staat, aber der christliche Antisemitismus wirkte mit Macht in der Bevölkerung weiter. Im Übrigen war der christliche Staat, der als solcher keine Juden als gleichberechtigte Bürger akzeptieren konnte, nahtlos in den NS-Staat übergegangen, nur dass jetzt das entscheidende Kriterium nicht mehr das Christentum war, sondern die arische Rasse, die keine Mitbürger der jüdischen Rasse neben sich duldete.

Mitverantwortung für die Massenmorde

Eine Überbetonung des Rassismus ist auch deswegen problematisch, weil dadurch die historische Komplexität des Antisemitismus rückblickend auf einen gewiss zentralen, aber eben nicht den einzigen Aspekt verengt wird. Für den heutigen Beobachter erscheint die pseudowissenschaftliche Absurdität des Rassismus so offensichtlich, dass man diese leicht den „verrückten“ und verbrecherischen Hauptakteuren des NS-Staates unterstellen kann, die damit angeblich weitgehend alleine standen.

Die Mehrzahl der Bevölkerung konnte damals und kann auch heute nichts mit dieser abstrusen Ideologie anfangen. Wer die Rassenideologie zum alles entscheidenden Aspekt macht, muss sich daher den Vorwurf gefallen lassen, damit letztlich einen großen Teil der deutschen Bevölkerung von seiner Mitverantwortung für die Massenmorde und seine Beteiligung daran zu exkulpieren.

Mythisierung hilft nicht weiter

Nicht weniger problematisch ist eine Mythisierung der NS-Massenmorde als die Verkörperung des Bösen schlechthin. Sie läuft Gefahr, die Schoah in eine überweltliche Ebene zu entrücken und damit außerirdischen Mächten anheimzustellen, die jeder Verantwortung und Rechtfertigung entzogen sind – mit der beabsichtigten oder unbeabsichtigten Folge, dass die menschlichen Akteure keine eigenverantwortlich Handelnden mehr sind, sondern nur Spielbälle in einem apokalyptischen Drama, dessen Dimension sie nicht überblicken und dessen Regeln sie nicht bestimmen.

Die Gegenposition dazu ist die Rede von der „Banalität des Bösen“. Hannah Arendt hat damit bei der Beobachtung des Prozesses gegen den pflichteifrigen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann, der vom Schreibtisch aus die Deportation und Ermordung der Juden organisierte, sicher einen wichtigen Aspekt aufgedeckt. Aber auch die „Banalität des Bösen“ ist gewiss nicht der alleinige Schlüssel zum Verständnis der Schoah.

Es hätte nicht so enden müssen

Eine weitere Verengung der Komplexität des Antisemitismus ist der Versuch, seine bisher letzte Steigerung im NS-Staat als den folgerichtigen Höhepunkt seiner gesamten vorherigen Manifestationen darzustellen. Danach wäre die Schoah das gewissermaßen notwendige Endstadium eines langen historischen Prozesses, der so enden musste. Diese Deutung läuft auf eine weitgehende Exkulpierung nicht nur der deutschen Bevölkerung, sondern auch ihres hauptverantwortlichen Akteurs Adolf Hitler hinaus.

Gewiss war der Massenmord des NS-Staates in der vorausgehenden Geschichte des Antisemitismus, insbesondere der Kaiserzeit, angelegt, aber er war alles andere als notwendig. Die Geschichte hätte auch anders verlaufen können, wenn Menschen (Individuen) und Institutionen, nicht zuletzt auch die beiden christlichen Kirchen, anders gehandelt hätten.

Der Versuch des Vergleichs ist nicht verwerflich

Die vergleichende historische Forschung hat verstärkt auch andere Massen- und Völkermorde herangezogen, um den Blick für die Besonderheiten der Schoah zu schärfen oder diese auch zu relativieren. So wurde etwa auf den Mord an den Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika verwiesen, auf den Völkermord an den Armeniern, Massenmorde unter Stalin, die Massenmorde an den Hutu und Tutsi in Burundi und Ruanda, die Ermordung bosnischer Muslime in Srebrenica, den Völkermord an den Jesiden durch den „Islamischen Staat“ oder zuletzt auf die Vertreibung und Ermordung der muslimischen Rohingya in Myanmar.

Hier ist zunächst festzuhalten, dass nicht allein schon der Versuch eines historischen Vergleichs verwerflich ist, weil er die Singularität der Schoah in Frage stellen könnte; historische Vergleiche sind selbstverständlich sinnvoll und notwendig.

Zur Sache selbst aber gilt nach wie vor, dass sich die Mordpolitik des NS-Staates von allen anderen bekannten Genoziden darin unterscheidet, dass sie den Juden als Menschen galt, nur weil sie als Juden geboren waren; dass sie allen Juden auf der ganzen Welt galt, nicht nur in einer bestimmten geographischen Region; dass die Juden ermordet werden sollten, nicht weil sie etwas Bestimmtes getan oder verbrochen hatten, sondern weil sie angeblich die Weltherrschaft anstrebten und damit eine Bedrohung für die zivilisierte Menschheit waren.

Industriell perfektionierte Tötung

Die Juden mussten mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln getötet werden, notfalls sogar unter Zurückstellung der Kriegsziele; diese Mittel waren auf die systematische, planmäßige, bürokratisch koordinierte, möglichst effiziente Massentötung ausgerichtet, bis hin zur industriell perfektionierten Tötungsfabrik. Und schließlich und hauptsächlich unterschied sich die Mordpolitik des NS-Staates dadurch von allen anderen Genoziden, dass diese Tötungsmaschinerie zur Staatsdoktrin erhoben und mit der geballten Macht des Staates durchgesetzt wurde – bis hin zum bewusst in Kauf genommenen Untergang dieses Staates.

Kaum ein anderes erhaltenes Dokument bringt die perverse Staatsdoktrin des NS-Staates, die auf die Vernichtung aller Juden ausgerichtet war, besser zum Ausdruck als die Rede, die Heinrich Himmler, der Reichsführer SS, am 4. Oktober 1943 vor SS-Offizieren im Rathaus der polnischen Stadt Posen hielt: „Unter uns soll es einmal ganz offen ausgesprochen sein, und trotzdem werden wir in der Öffentlichkeit nie darüber reden. Ich meine jetzt die Judenevakuierung, die Ausrottung des jüdischen Volkes. Es gehört zu den Dingen, die man leicht ausspricht. Das jüdische Volk wird ausgerottet, sagt ein jeder Parteigenosse, ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir. Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen, und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude. Von allen, die so reden, hat keiner zugesehen, keiner hat es durchgestanden. Von Euch werden die meisten wissen, was es heißt, wenn 100 Leichen beisammen liegen, wenn 500 daliegen oder wenn 1000 daliegen. Dies durchgehalten zu haben, und dabei – abgesehen von Ausnahmen menschlicher Schwächen – anständig geblieben zu sein, das hat uns hart gemacht. Dies ist ein niemals geschriebenes und niemals zu schreibendes Ruhmesblatt unserer Geschichte.“

Die Schoah lässt sich nicht heilen

Dies alles zusammengenommen macht die Besonderheit dessen aus, was als Schoah in das kollektive Gedächtnis der Menschheit eingegangen ist. Es ist heute üblich geworden, diese Besonderheit mit dem Begriff des „Zivilisationsbruchs“ zu bezeichnen. Kaum eine Rede von Politikern oder anderen Repräsentanten des öffentlichen Lebens kommt heute ohne diesen Begriff aus, ja er erfüllt fast schon apotropäische Zwecke.

Richtig daran ist sicher, dass die Schoah an die Grundlagen unserer Zivilisation rührt, diese radikal in Frage stellt. Aber sie ist mehr als ein „Bruch“ der Zivilisation – Brüche können geheilt, auch überdeckt oder gar überkleistert werden. Die Schoah ist in Wirklichkeit der Absturz oder noch genauer das Ende der Zivilisation, so wie wir sie kennen.

Seitdem sind alle Grundannahmen, alle Sicherheiten unserer Zivilisation zerbrochen, liegen in Scherben und können nicht einfach wieder zusammengekittet werden. Wir sind jetzt immer noch in einem Stadium, in dem es darum geht, unsere zerstörte Zivilisation nicht zu rekonstruieren, sondern neu zu errichten - im vollen Bewusstsein dessen, was geschehen ist, oder genauer: was wir haben geschehen lassen (Peter Schäfer leitete von 2014 bis 2019 das Jüdische Museum Berlin. Sein Buch „Kurze Geschichte des Antisemitismus“ erscheint am 27. August im Verlag C.H.Beck, 335 Seiten, 26,95 €).

Peter Schäfer

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