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Wolf Lepenies: "Man kann vom Elfenbeinturm weit sehen"

Wolf Lepenies, der Vermittler zwischen Orient und Okzident, hat den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Die gesamte Dankesrede des Soziologen im Wortlaut.

Danke - sagte Andrei Plesu, als er 1993 den New Europe Prize erhielt, mit dem Zivilcourage und Visionen für die Zukunft ausgezeichnet wurden. Doch ging er auf Distanz zum Namen der Auszeichnung, die ihm verliehen worden war. Zu unserer Verblüffung betonte Plesu, wie sehr dem Diktator Ceaucescu dieser Name gefallen hätte: Preis des Neuen Europa.

Den Rumänen hatte man befohlen, im Alten das Schlechte und im Neuen das Gute zu sehen. So verbanden sie schließlich alles Neue mit der Diktatur. Dissidenten waren im Namen der "Neuen Politik" inhaftiert, Traditionen mit Hinweis auf die "Neue Kultur" zerstört, Bauerndörfer im Rahmen der "Neuen Siedlungspolitik" abgerissen worden. Plesu bedankte sich - und nannte einen fiktiven Preis, den er noch lieber erhalten hätte: den Preis des Alten Europa.

Andrei Plesu gehört zu den "Extrapersonen", mit denen Joachim Nettelbeck und ich - mit dem Wissenschaftskolleg als Basis und in einem Verbund privater Stiftungen und staatlicher Förderer - nach dem Ende des Kommunismus halfen, in Mittel- und Osteuropa Institutionen für die Wissenschaft zu bauen; "freie geistige Tauschplätze" hätte Jacob Burckhardt sie genannt. 1989 begann ein Lernabenteuer. In Bukarest gaben die Gegenwart der Orthodoxie und das Erbe Ostroms dem Nachdenken über die Rolle der Religion in der Moderne eine neue Sicht; in Sankt Petersburg erfuhren wir, dass Griechisch und Latein keine toten Sprachen gewesen waren, sondern dass sie ein lebendiges Medium der Kommunikation gebildet hatten, in dem auch unter einem kommunistischen Regime der freiheitliche europäische Geist überwintern konnte. Auf den ersten Blick altmodisch anmutende Formen der Gelehrsamkeit hatten geistige Energien gespeichert, die halfen, den politischen Wandel zu beschleunigen.

1993 war von der Euphorie des Wunderjahres 1989 wenig mehr zu spüren. Zweifel meldeten sich zurück: Der Triumph des Marktkapitalismus, der liberalen Demokratie und des Rechtsstaats schien nicht länger unausweichlich. Mitten in Europa herrschte wieder Krieg. Auf dem Balkan tobten Konflikte, die sich mit dem Namen "Islam" verbanden. Hoffnung kam aus dem Nahen Osten. In Washington reichten sich die späteren Friedensnobelpreisträger Jitzhak Rabin, Yasser Arafat und Schimon Peres die Hände. 1993 begann für uns ein neues Forschungsprojekt: Europa im Nahen Osten.

Zusammen mit Yehuda Elkana förderten wir in Jerusalem eine Gruppe junger Israelis, Palästinenser und Deutscher. Sie fragten nach Traditionen der europäischen Aufklärung, die in den Ländern des Nahen Ostens wirksam geblieben waren. Es handelte sich um keine Friedensmission; es ging - wie wissenschaftliche Arbeit es erfordert - um geregelten Streit. Juden und Araber verließen die rhetorischen Barrikaden, hinter denen sie sich in der Regel verschanzten. Wir hatten geplant, den Mittelpunkt des Projekts von Israel in die Palästinensergebiete, von Jerusalem nach Ramallah zu verlagern. Dazu kam es nicht mehr; der Friedensprozess brach im Herbst 2000 mit der zweiten Intifada ab, das Projekt fand ein Ende.

Vor einer Woche hat eine Sommeruniversität mit Teilnehmern aus Europa, Amerika und den Ländern des Nahen Ostens begonnen - in Beirut, wo der Herbst noch auf sich warten lässt. Junge Wissenschaftler beschäftigen sich - im Vergleich von Orient und Okzident - mit dem irakischen Prosagedicht und der Entwicklung der anglophonen arabischen Literatur, dem Musiktheater im Libanon und der verstörenden Wahlverwandtschaft zwischen arabischen Schriftstellern und einem jüdischen Autor: Franz Kafka. Und natürlich streiten sie nicht nur über Literatur, sondern über Krieg und Frieden.

"Verflechtungen" heißt das Schlüsselwort des Berliner Forschungsverbundes, der, zusammen mit der American University in Beirut, die Sommerakademie geplant hat. Der Name des Forschungsverbundes ist Programm: Europa im Nahen Osten - Der Nahe Osten in Europa. Es gibt keine ferne Fremde mehr. Friede und Krieg im Nahen Osten berühren Europa unmittelbar.

Es ist Halbzeit in Beirut. Das Kulturzentrum, in dem die Sommerakademie heute Abend tagen sollte, ist durch einen Bombenangriff zerstört worden. Die libanesischen Kollegen haben darum gebeten, dass es beim Tagungsort Beirut bleibt. Nicht, so sagten sie, weil dies jetzt wieder möglich ist, sondern weil es später vielleicht nicht mehr möglich sein wird.

Die Sommeruniversität im Libanon bildet einen neuen Abschnitt der Projekte, die vor zwölf Jahren ihren Anfang nahmen: Moderne und Islam hieß das Leitthema. Damit begann - nach dem Engagement in Mittel- und Osteuropa - ein neues Lernabenteuer des Wissenschaftskollegs. Verstärkt wurde unsere Überzeugung von der Notwendigkeit der Forschung und vom Nutzen der Wissbegierde. Terror und Gewalt setzten unseren Projekten regelmäßig die Zäsuren: der Mord an Jitzhak Rabin, die neue Intifada, der 11. September 2001, der zweite Irak-Krieg, die Kämpfe im Libanon. Forschung in Zeiten des Krieges - eine Chronik der Vergeblichkeit? Ihn erfasse das Gefühl eines schrecklichen Déjà Vu, schrieb im Sommer ein Orientwissenschaftler, der lange in Beirut gelebt hatte. Klein und nichtig komme man sich in Kriegszeiten vor. Bleibt der Wissenschaft nur das Schweigen?

1793 fragte der Verleger Carl Spener Immanuel Kant, ob man nicht eine Neuauflage seiner "herzerhebenden" Abhandlung "Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht" ins Auge fassen könne. Deren Kerngedanke einer "allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft" habe bei den europäischen Fürsten kein Echo gefunden. In Zeiten wachsender politischer Spannung müsse man dies ändern, forderte Spener: "Ist es nicht Pflicht, durch irgend einen Tropfen Öl die schreckliche Friction zu vermindern, die Hunderttausende zu zerquetschen droht?"

Kant lehnte ab: "Wenn die Starken in der Welt im Zustande eines Rausches sind" [...], warnte er, "so ist einem Pygmäen, dem seine Haut lieb ist, zu raten, dass er sich ja nicht in ihren Streit mische." Drei Jahre später mischte der Philosoph sich ein: Die Schrift "Zum Ewigen Frieden" war auch an die "Starken in der Welt" adressiert. Es handelte sich dabei, wie selbst Kritiker sagten, um "eine ernste, tiefe, überschwänglich große Idee", und "wenn es eine Wissenschaft gäbe, die die Mittel zum ewigen Frieden lehrte, so wäre diese unter allen menschlichen die höchste" (Friedrich Gentz).

Kant war kein Träumer. Seine geschichtsphilosophische Hoffnung blieb wirklichkeitsnah; anthropologische Skepsis begleitete sie. Der Mensch ist ein krummes Holz, aus dem nichts ganz Gerades gezimmert werden kann, er ist ein Tier, das einen Herrn nötig hat, "Ehrsucht, Herrschsucht oder Habsucht" treiben ihn. Die Errichtung eines "großen Völkerbundes" ist anthropologisch unwahrscheinlich - und dennoch muss die Menschengattung sich von dieser Idee leiten lassen, auch wenn die "eigentliche, empirische Geschichte" weit entfernt davon bleibt.

Der Frieden und die Wissenschaft sind keine natürlichen Alliierten. Die Wissenschaft kann der Tropfen Öl sein, der schreckliche "Frictionen" mildert; oft aber wirkt sie wie Öl, das man ins Feuer gießt. Die Orientwissenschaften sind dafür ein Beispiel. Bismarck nannte die orientalische Frage ein Gebiet, auf welchem die Deutschen ihren Freunden nutzen und ihren Gegnern schaden könnten. Nutzen und Schaden sollte das Seminar für Orientalische Sprachen befördern, das auf Initiative des Reichskanzlers 1887 an der Berliner Universität gegründet wurde. Im Dritten Reich wurde das Seminar Teil der Auslandswissenschaften, die sich mit den "Kulturideologien fremder Völker" beschäftigten. Ihren Aufschwung erlebten sie im Zweiten Weltkrieg; angesiedelt im Reichssicherheitshauptamt der SS, war die zentrale Aufgabe der Auslandswissenschaften die "weltanschauliche Gegnerbekämpfung" - "auf rein wissenschaftlicher Basis", wie ein Referent namens Adolf Eichmann betonte.

Angesichts der auch in Europa wachsenden Bedrohung durch den islamistisch geprägten Terror wird gefordert, die "Auslandswissenschaften" sollten verstärkt "Gegnerforschung" betreiben und im Weltbürgerkrieg der Gegenwart in Stellung gehen. Die Forderung wirkt durch die Verwendung des Vokabulars aus der Nazizeit provokativ - in der Sache ist sie es nicht.

Es wäre selbstmörderisch, auf "Gegnerforschung" zu verzichten. Notwendig ist es, der Militanz wehrhaft zu begegnen - auch mit den Mitteln der Wissenschaft. Es reicht aber nicht mehr aus, sich zum Erkennen von Gegnern und zur Abwehr von Feinden wie in Bismarcks Zeiten in die Mentalität von Fremden zu versetzen. Wenn beispielsweise der britische Innenminister die Terroristen von London "sehr böse Menschen" nennt, spricht er nicht nur von Muslimen, sondern zugleich von britischen, in Großbritannien geborenen Staatsbürgern. Um zu verstehen, wie sie zu Terroristen wurden, genügt keine "Auslands-", dazu bedarf es auch einer "Inlandswissenschaft". Nicht nur die Abwehr des Islamismus, auch die Kritik des Islam ist - wie jede Religionskritik - legitim. Diese Kritik aber kann die Versäumnisse der europäischen Integrationspolitik nicht kompensieren.

Das heißt: Angesichts der Bedrohung, der wir uns gegenübersehen, muss man den Nutzen einer Disziplin wie der Islamwissenschaft für die "Gegnerforschung" nüchtern einschätzen. Wenn wir glauben, die Ursachen des Terrors einzig in den "Kulturideologien fremder Völker" finden zu können, sind wir längst Kombattanten im "Krieg der Kulturen", den die Fundamentalisten herbeibomben wollen.

Dagegen können wir aber auch nicht das treuherzige Wunschbild einer "Koalition der Kulturen" setzen. Was wir dagegen setzen müssen, ist zunächst die historische Einsicht in die engen Verflechtungen des Westens mit der islamischen Welt.

Die Erinnerung an diese Verflechtungen ist ein Skándalon, ein Ärgernis für beide Seiten. Wie groß dieses Ärgernis im Westen stets gewesen ist, zeigt ein Schlüsseltext europäischer Aufklärungsskepsis, die Preisschrift Rousseaus aus der Mitte des 18. Jahrhunderts, in welcher die Frage nach dem Nutzen der Wissenschaften und der Künste für die Gesellschaft negativ beantwortet wird. Rousseau erinnert an die Vorgeschichte der Renaissance, als Europa in Unwissenheit und Barbarei zurückgefallen war: "Es musste eine Revolution erfolgen, um die Menschen zur gesunden Vernunft zurückzuführen; sie kam endlich, und zwar von einer Seite, woher man es am wenigsten vermutet hätte. Der dumme Muselmann, dieser geschworene Feind der Gelehrsamkeit, war es, der sie unter uns wieder aufweckte."

Die Eroberung Konstantinopels durch die Türken im Jahre 1453 macht "den dummen Muselmann" zum Mit-Urheber von Renaissance und Aufklärung - ein Skandal, für das europäische Selbstbewusstsein ein Stolperstein. Bis heute. Wollen wir, wenn wir der laizistisch verfassten Türkei die Perspektive einer Mitgliedschaft in der Europäischen Union mit dem Argument vorenthalten, auf unserem Kontinent werde ein muslimisches Land ein Fremdkörper bleiben, wissen, wie sehr unser christliches Mittelalter vom Islam geprägt wurde? Darf man daran erinnern, dass Europa das antike Erbe auch durch die Vermittlung der arabisch-islamischen Kultur empfangen hat? Können wir die Aufklärung noch länger als westliches Unikat beanspruchen, wenn wir zur Kenntnis nehmen, dass sie ihre jüdisch-arabischen Wurzeln hatte? Gegen die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union sprechen schwerwiegende Gründe: die Missachtung der Menschenrechte, der fehlende Minderheitenschutz, das drohende demographische Ungleichgewicht, die Gefahr einer Funktionsunfähigkeit der europäischen Institutionen. Gegen die Aufnahme der Türkei spricht nicht, dass damit das christliche Europa seine Seele verlöre. Europa - darin lag seine Stärke - hatte nie eine reine Seele.

Ebenso wenig aber kann der Islam "Reinheit" für sich beanspruchen - wie es die türkischen Gegner eines EU-Beitritts ihres Landes tun, die Europa als "Christenclub" beschimpfen. Der Islam war nicht nur eine religiöse, sondern auch eine ästhetische und profane, vor allem aber war er keine monolithische, sondern eine fraktale, eine gebrochene Kultur. Und er war lange Zeit und an vielen Orten mit dem christlichen Westen und der jüdischen Welt eng verbunden. Dies auszusprechen, ist auch ein Skandal, ein Stolperstein für Islamisten - ebenso wie die Erinnerung daran, dass der Koran das Produkt einer mit anderen Religionen und Kulturen geteilten Antike, einer mit dem Westen in politischen Kämpfen und interkonfessioneller Polemik gemeinsam durchlebten Geschichte ist.

Heute gewinnen die Orient- oder Islamwissenschaften eine neue Bedeutung. Es geht dabei weder um Friedens-, noch um Gegnerforschung. Es geht um Forschung - und um Lehren und Lernen. Ist in diesem Zusammenhang vom Elfenbeinturm die Rede, darf dies nicht schrecken. Es gibt Elfenbeintürme, von denen aus man weit sieht.

Als Johann Georg Hamann sich wieder einmal von Kant missverstanden fühlte, mahnte er ihn: "Sie müssen mich fragen und nicht sich, wenn Sie mich verstehen wollen." Forschung über den Islam und das Lernen mit Gelehrten aus der muslimischen Welt gehören zusammen. Dies ist eine erkenntnisleitende Maxime - und nicht Ausdruck einer Wissenschaftspolitik des guten Willens. Naiv wäre dabei der Glaube, es reiche aus, Muslime zu fragen, um den Islam zu verstehen. Erkenntnisleitend in der Forschung über die islamische Welt ist vielmehr eine für die Geisteswissenschaften grundlegende Einsicht: Viele Phänomene können wir nur verstehen, wenn wir uns ihnen aus verschiedenen Perspektiven und mit dem Hintergrund unterschiedlicher Erfahrungen nähern. Die Kreuzung der Wahrnehmungen und Erfahrungen ist dabei von besonderer Bedeutung, weil sich die islamische Welt seit dem Eintritt des Westens in die Moderne nicht selten in selbstquälerischer und zugleich aggressiver Sensibilität als die missverstandene, weil unbefragte Kultur darstellt.

Auskunft über diese Kultur zu geben, kann nicht länger ein Privileg der Islamwissenschaft sein. Sie ist eine unmögliche, weil überforderte Disziplin. Um dies zu erkennen, genügt die Vorstellung einer Christentumswissenschaft, der man die Bibelexegese ebenso zumuten würde wie die Ursachenforschung des Dreißigjährigen Krieges, eine Erklärung für den dramatischen Rückgang der Geburtenraten und die Deutung von Faust II. Entexotisierungen sind hier überfällig. Die Geschichte der muslimischen Länder gehört in das Curriculum einer allgemeinen Geschichtswissenschaft, ihre Dichtung ist Teil der Weltliteraturgeschichte.

Wagt man sich nach oben, kann man vom Elfenbeinturm aus weit sehen. Wissenschaftliche Strenge ist die Voraussetzung, damit Weitsicht-Projekte auch im Raum des Politischen nicht ohne Folgen bleiben.

Als sich in Berlin eine Forschungsgruppe mit dem Namen Jüdisch-Islamische Hermeneutik gründete, hatte ich, der Außenstehende, das Bild einer Gelehrtenklause mit weltfremden Bewohnern vor Augen. Würde, über alte, heilige Texte gebeugt, diesen arabischen, israelischen und iranischen Gelehrten nicht der Blick auf die Gegenwart versperrt bleiben? Das Gegenteil ist der Fall. Diese Buchgelehrten bewegt ein zukunftsweisendes Projekt: die vergleichende Interpretation muslimischer und jüdischer Traditionen. Eine Deutungskonkurrenz wird dabei nicht nur zugelassen, sie ist erwünscht. "Die Religion ist zu wichtig, um sie alleine den Gläubigen zu überlassen", sagte Abdolkarim Soroush - einst ein Führer der iranischen Revolution, heute der charismatische Hoffnungsträger des theologischen Reformprozesses im Iran.

Die heiligen Texte sind voller Gewalt und Zumutungen; sie rufen Abwehr und Aggressionen hervor. Juden, Muslime und Christen, die sie gemeinsam interpretieren, fühlen sich dabei nicht wie in Abrahams Schoß. Umso aufregender ist es, zu sehen, wie sie - trotz aller Differenzen - der Widerstand gegen die politische Instrumentalisierung ihrer Religionen eint. Das Hieb- und Stichwort "Säkularisierung" führt dabei auf eine falsche Fährte. Es geht um die Trennung von Staat und Religion - um des Glaubens willen. Es geht um die Einsicht, dass eigene Traditionen zum gleichen Kulturraum gehören wie die Traditionen des Nachbarn, in dem seit langem der politische Feind gesehen wird. Eine Freund-Feind-Ideologie, die sich auf religiöse Grundlagen beruft, wird auf einmal bodenlos. Den eigenen Glauben stärkt der Glauben anderer. Dies ist der Kontext, in dem auch Muslime eine historisch-philologische Kritik des Korans nicht nur akzeptieren, sondern für notwendig halten können.

Für den europäischen Beobachter werden Spätfolgen des westlichen Säkularisierungsprozesses sichtbar. Zu Recht verteidigen wir nicht nur die Religionsfreiheit, sondern auch die Freiheit von der Religion. Verbunden mit diesem Zuwachs an Freiheit aber war der Verlust einer religiösen Aufmerksamkeit, ein Verkennen der Bedeutung, welche - ohne notwendige Absage an die Vernunft - der Glauben für andere behalten hat. Ist diese religiöse Aufmerksamkeit wieder gewonnen, lässt sich die Grundüberzeugung der notwendigen Trennung von Staat und Kirche umso entschiedener vertreten - weil sie nicht länger in Vernunft und Glauben natürliche Gegner sieht. Ratio et Fides.

Jüdisch-Islamische Hermeneutik: Beeindruckend an der Kooperation von israelischen und arabischen Gelehrten, von Juden und Muslimen, war ihre Bereitschaft zur Selbstkritik. Eingespielte Voraussetzungen des eigenen Denkens und Handelns zu überprüfen, war kein Zeichen der Schwäche, sondern der inneren Stärke. Dies mitzuerleben, ähnelte dem Schock des ersten unwahrscheinlichen Rechenexempels, bei dem man lernte, dass Minus mal Minus Plus ergibt. Hier bietet sich eine wissenschaftspolitische Chance, welche die Bundesrepublik nutzen sollte. Solange Milieus einer Infragestellung der eigenen kulturellen Selbstverständlichkeiten im Nahen Osten weitgehend fehlen, sollte Deutschland noch stärker als bisher versuchen, zu einem Exterritorium der jüdisch-muslimischen Wissenschaftskooperation zu werden - mitten im "christlichen Europa".

Auf "exterritorialem" Gebiet ließe sich auch das Projekt einer islamischen Moderne befördern. Ein Gelehrtentraum, eine politische Utopie? Erscheint ihre Verwirklichung nicht unwahrscheinlicher als je zuvor? Gerade deshalb: Es gilt für den Westen, mit aller Kraft die Leitidee eines mit der Moderne kompatiblen Islam zu stärken, die aus der Mitte der muslimischen Welt heraus entwickelt und propagiert wird. Mutige Wissenschaftler spielen dabei seit langem eine führende Rolle. Sie haben Leib und Leben riskiert - und haben entscheidend am Aufbau eines zivilgesellschaftlichen Potenzials mitgewirkt. Es geht um die Stärkung von Gruppen, die zwischen Islam und Moderne keinen Gegensatz sehen und von der Demokratiefähigkeit muslimischer Gesellschaften überzeugt sind. Diese zivilgesellschaftlichen Eliten sollten wir im Bemühen, ihrer Herkunftskultur den Weg in die Moderne zu ebnen, mit weit größerer Entschiedenheit unterstützen, als dies in der Vergangenheit der Fall war.

Stellen wir uns vor, es hätte keine iranische Revolution gegeben und der 11. September sei ein Datum unter vielen, stellen wir uns vor, wir hätten den Namen Al-Qaida noch nie gehört. Die gelehrten Projekte, von denen hier die Rede war, verlören dadurch nichts an Bedeutung. Das Mehrwissen ist der Mehrwert der Wissenschaft; das Wissenwollen rechtfertigt sich aus sich selbst. Dennoch gerät das Wissenwollen unter den Druck des Nutzensollens - oder setzt sich selbst unter diesen Druck. Dann kommt es, wie bei Kant, zur Versicherung, der Nutzen der Philosophie sei groß, obzwar entfernt oder, wie bei Heinrich Heine, zur frechen Behauptung gegenüber den "stolzen Männern der Tat", sie seien nichts weiter als "unbewusste Handlanger der Gedankenmänner, die oft in demütigster Stille Euch all Euer Tun aufs Bestimmteste vorgezeichnet haben". Wann dies aber der Fall gewesen ist oder sein kann, ist schwer zu entscheiden - ganz abgesehen davon, dass Gedankenmänner und -frauen "in demütigster Stille" oft Dinge erdacht haben, von denen wir wünschen, Menschen der Tat hätten sie nie zur Grundlage ihrer furchtbaren Handlungen gemacht.

Gegenüber den kurzen Fristen der Legislaturperiodenpolitik bleibt Weitsicht ein Anspruch und auszeichnendes Merkmal der Wissenschaft. Das Vertrauen in die langfristige Wirkung gelehrten Engagements darf aber den Blick auf die aktuellen Defizite unseres Wissenschaftssystems nicht verstellen. Für Länder und Kulturen mit Milliarden-Bevölkerungen sind an den deutschen Universitäten die so genannten "kleinen Fächer" zuständig. Für die aberwitzigen Kürzungen, die wir unseren Bildungseinrichtungen zumuten, sind sie freilich immer noch groß genug. Gleichzeitig verschwinden Wissensbestände, die einst zum deutschen Bildungskanon gehörten: Während laut über eine christliche Reconquista des von muslimischen Immigranten bedrohten Europa nachgedacht wird, verabschiedet sich aus unseren Hochschulen in aller Stille die Wissenschaft vom Christlichen Orient.

Dies ist auch die Folge einer Entwicklung, in der unsere Universitäten angeblich in die Freiheit entlassen wurden. Tatsächlich wurde ihnen die Verwaltung des Mangels übertragen. Es geht aber nicht nur um finanzielle, es geht um intellektuelle Ansprüche. Änderungen sind in Sicht. Überfällig ist beispielsweise die Reorganisation der so genannten Regionalwissenschaften, die der Wissenschaftsrat jetzt anmahnt. Dass man glaubte, die Philologie reiche aus, um fremde Kulturen zu verstehen, war ebenso kurzsichtig, wie die Abneigung von Geschichts- und Sozialwissenschaften, sich mit etwas anderem zu beschäftigen als mit den überernährten Gesellschaften der westlichen Hemisphäre. Lange Zeit wurden die Geisteswissenschaften marginalisiert. Ihre chronische Unterförderung beruhte auch auf ihrer Unterforderung. Diese Unterforderung können wir uns nicht länger leisten.

Den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels zu erhalten, ist für mich eine hohe Ehre. Der Preis gilt zugleich dem Wissenschaftskolleg zu Berlin; geehrt werden seine Mitglieder und Mitarbeiter. Ich freue mich über die Anwesenheit der Vertreter deutscher und anderer europäischer Stiftungen, die unsere Forschungsprojekte unterstützt haben.

Auf dem Feld der Wissenschaft werden die Herausforderungen besonders deutlich, vor denen - angesichts der Kräfteverschiebungen in einer zusammenwachsenden Welt - die westlichen Zivilgesellschaften stehen. Unsere kulturellen Selbstverständlichkeiten müssen neu behauptet werden. An Grundüberzeugungen wie den Menschenrechten und der Meinungsfreiheit brauchen wir dabei nicht zu zweifeln. Und gegen den Fanatismus hilft Festigkeit. Woran es mangelt, ist die Wärme, mit der wir uns zu unseren Werten bekennen. Ansteckend kann die Demokratie nur wirken, wenn sie nicht routiniert betrieben oder anderen mit Gewalt aufgezwungen, sondern mit Enthusiasmus gelebt wird.

Ein Enthusiasmus ohne Überheblichkeit. Wenn es darum geht, die Akzeptanz "westlicher Errungenschaften" in der Welt - nicht nur in der Welt des Islam - zu befördern, kommt es entscheidend auf unsere Fähigkeit zur Selbstkritik und Selbstbescheidung an. Die Probleme der Moderne sind unübersehbar. Im übrigen ist sie nicht unser Monopol; wir haben lernen müssen, dass es eine nicht-westliche Moderne gibt. Auf die Demokratie haben wir kein Patent; sie ist kein Gut, das wir nach Belieben exportieren können. Wenn wir den Universalitätsanspruch unserer Überzeugungen ernst nehmen, werden wir erkennen, dass sich Motive zum Übergang in die Moderne und Voraussetzungen zur Demokratie in allen Kulturen finden. Sie gilt es zu stärken.

Die Folge ist kein Kulturrelativismus. Enthusiasmus und Selbstkritik vereinen sich in einem unschätzbaren Gut: der Kultur der selbstbewussten Freiheit. In ihr zu leben und wissenschaftlich zu arbeiten, ist ein Vorzug und eine Verpflichtung. (tso)

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