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Wechselnde Formen und Farben. Bei dem Stück „The Thread“ werden Volkstänze in immer wieder veränderter Form präsentiert.

© Matthias Leitzke

Wolfsburger Tanzfestival Movimentos: Da kann die Berliner Tanzszene nur neidisch sein

Worüber Berlin redet, das wird in Wolfsburg umgesetzt: Die Stadt bekommt einen neuen Ort für den Tanz. Dort findet das Festival Movimentos statt. Ein Besuch.

Manchmal muss man Dinge in Beziehung setzen, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben. Ganz Berlin redet – mal wieder und in zigfacher Auflage – über ein Haus für Tanz und Choreografie, und in Wolfsburg bauen sie in sechs Monaten eine neue Halle, damit ihr Tanzfestival Movimentos (fast) wie gewohnt über die Bühne gehen kann. Das beeindruckende Kraftwerk, in dem die Festwochen von Beginn an stattfanden, soll nun das ganze Jahr über seine eigentliche Funktion erfüllen und stand nicht mehr zur Verfügung.

Die Kunst musste weichen, also nach 16 Jahren ein neues Gebäude her – und voilà, da steht nun ein neuer Spielort: am Rande des Hafenbeckens und deswegen auch Hafen 1 getauft. Es ist nicht ausgesprochen schön, sondern, wenn nicht gerade nächtens rot illuminiert, eher grau und funktional, aber eben: ein Ort auch für den Tanz.

[Autostadt Wolfsburg, bis 25. August; movimentos.de]

Natürlich kann man die Ausgangslage, also die öffentliche versus unternehmerische Kulturförderung nicht vergleichen. Natürlich ist Berlin nicht Wolfsburg, und die Autostadt – laut eigener Aussage die Kommunikationsplattform, de facto aber das Autoauslieferungs- und Marketingzentrum des Volkswagen-Konzerns – war schon immer ein Ort der besonderen und auch etwas ambivalenten Sorte.

Tanzakademie. Die letzten beiden Abende von Movimentos gehören der Tanzakademie, in der junge Menschen Choreografien für das Finale erarbeiten.
Tanzakademie. Die letzten beiden Abende von Movimentos gehören der Tanzakademie, in der junge Menschen Choreografien für das Finale erarbeiten.

©  Anja Weber

Sie ist deswegen so angenehm, weil es keinen Automobilverkehr gibt, weil die Wege nicht gerade, sondern sanft verschlungen von A nach B führen, weil das Grün immer ein bisschen grüner und der Himmel fast immer blau ist. Es ist ein Ort von ausgesuchter Künstlichkeit, an dem Klimawandel und Abgasskandale absurd weit weg erscheinen.

Berlin schaut also bedingt neidvoll auf die Autostadt und ihre neue Halle, in der in diesem Jahr mit der Konzentration auf sechs Tanzcompagnien eine verkleinerte Version der Movimentos Festwochen stattfand. Die São Paulo Dance Company machte den Aufschlag, unter anderem mit einer Uraufführung von der kanadischen Choreografenlegende Edouard Lock. Der lebt in „Trick Cell Play“ seine nicht mehr ganz so neue Leidenschaft für immer noch hochvirtuose, inzwischen vor allem überzüchtet wirkende Hochgeschwindigkeitstänze aus.

Staubige Körper auf ausgetrockneten Flussbetten

Zwar ist es elektrisierend zu sehen, wie die Hände der Tänzerinnen und Tänzer schwirren, Beine in die Luft geschossen und aberwitzige Pirouetten gedreht werden. Die häufigen Platzwechsel von einem Spot zum nächsten signalisieren: Es gibt keinen Halt, nirgends. Ruhe darf nicht einkehren. Doch behandelt Locks scharfkantiger Perfektionismus dabei die Körper auf der Bühne rein formalistisch. Er lässt sie extrem kontrolliert wirken – und touchiert dadurch mitunter die Grenze zur Karikatur. Das ist schmerzhaft und faszinierend zugleich, aber vor allem erschöpft es sich schnell.

Seine brasilianische Kollegin Deborah Colker setzt dagegen in „Dog Without Feathers“ auf die Macht der Filmbilder. Überlebensgroß erscheinen auf einer riesigen Leinwand faszinierende Ansichten von Mensch und Natur rund um den Fluss Capibaribe, der sich endlos durch mehr oder weniger dürre Gebiete des brasilianischen Nordens zieht.

Von getrocknetem Schlamm eingehüllte, staubige Körper liegen auf den Rissen ausgetrockneter Flussbetten, schmiegen sich an bedrohlich aus dem Wasser ragende Wurzeln von Mangrovenbäumen und versinken im Morast. Während die Körper im Film von den Formen und Mustern der Natur förmlich aufgesaugt werden, verschwinden sie auf der Bühne vor dem Hintergrund des Films. Die Realität des Tanzes kommt gegen die starke Ästhetisierung der Bildproduktion nicht an.

Es darf nur um die Kunst gehen

Anders, weil ganz auf Bühnenpräsenz und -bewegung fokussiert macht es Russell Maliphant in „The Thread“. Zu mal ungeheuer nerviger, mal eindringlicher, eigens für diese Tanzproduktion komponierter Musik des griechischen Klangkünstlers Vangelis lässt der britische Choreograf ein 18-köpfiges Ensemble Volkstänze in vollendeter und fragmentarisierter Form präsentieren und schafft damit ein hochsuggestives Stück, das mit seinen wechselnden Strukturen, Formen und Farben betört.

Der einzige Wermutstropfen dieser letzten internationalen Movimentos-Premiere in diesem Jahr war ein Hinweis, den Geschäftsführer Roland Clement in seiner kurzen Begrüßungsrede nicht lassen konnte und mit dem er auf die „Premiere“ eines neuen Produkts verwies. Das als unelegant zu erleben, mag man empfindlich finden. Aber es folgt nur der in der Autostadt mit Absicht erzeugten Illusion, alles sei gut und es dürfe einmal nur um das eine gehen: die Kunst.

Elisabeth Nehring

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