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Kultur: Wonnen des Abgrunds

Ein Sex-and-Crime-Roman in Bildern: Max Ernsts „Une semaine de bonté“ in der Wiener Albertina

Einen Koffer voller illustrierter Trivialromane des 19. Jahrhunderts hatte Max Ernst nach Italien mitgebracht, als er im Sommer 1933 einige Wochen nahe Piacenza auf dem Landsitz einer wohlhabenden Gräfin verbrachte. Auf Schloss Vigoleno entstanden binnen dreier Wochen 184 Collagen aus diesem Material, wenn die nächtliche Stunde den schaurigen Sujets der Romane entsprach: Mord, Vergewaltigung, Verbrechen aller Art, im Medium des für massenhafte Reproduktion vorzüglich geeigneten Holzstichs geschildert. Die Bildwelten, die sich da auftaten, entsprachen so ganz der surrealistischen Neugier auf das Unbewusste, das sich hinter der vermeintlichen Ratio der Oberfläche eher zeigt denn verbirgt.

182 dieser mit Schere und Messer geschaffenen Vorlagen fasste Max Ernst zu dem Collageroman „Une semaine de bonté“ zusammen, dessen deutsche Fassung den Titel „Die weiße Woche. Ein Bilderbuch von Güte, Liebe und Menschlichkeit“ erhielt. 1934 erschien die fünfbändige Ausgabe in Paris; zu den ursprünglich erhofften sieben Bänden, um allen Wochentagen zu entsprechen, kam es aus Geldmangel nicht.

Max Ernst hat die originalen Collagen stets zurückbehalten. Er wollte nicht, dass die Technik ihrer Herstellung sichtbar würde. Seine Collagen zeichnen sich gerade dadurch aus, dass sie als solche nicht erkennbar sind, schon gar nicht im Druck. Das Zusammengestückelte sollte als vorgeplante Einheit erscheinen. Ein einziges Mal gab der Künstler die Originale dann doch aus der Hand, 1936 für eine Ausstellung im republikanischen Madrid. Seither sind sie kein zweites Mal gezeigt worden. Nun aber wartet die Albertina, das Wiener Grafikmuseum, mit der Sensation auf, sämtliche 182 Originale vorzustellen. Kein anderer als Werner Spies, seit Jahrzehnten der Max-Ernst-Experte schlechthin, hat es vermocht, den französischen Eigentümer „eines der bestgehüteten Geheimnisse der Kunst des 20. Jahrhunderts“ zu dieser Ausleihe zu bewegen.

Und kaum ein Unterschied zu den Drucken ist zu sehen: Die Collagen geben ihre Entstehung tatsächlich nur bei genauestem Hinsehen preis. Manches verwendete Papier ist stärker gegilbt als anderes. Doch Schnittkanten oder gar Klebespuren sind nicht zu entdecken. Max Ernst hat die Vorlagen perfekt aufeinander abgestimmt, so dass aus den Romanen der zerschnittenen Vorlagen ein neuer, nun aber gänzlich visueller „Roman“ entstanden ist. Spies weist darauf hin, dass Ernst zu seiner Zeit als Zeichner gerühmt wurde, so dass das Neuartige seiner Arbeiten gar nicht ins Auge fiel. Der Künstler habe es so gewollt, so Spies, er habe die „Analogie zum perfekten Verbrechen“ gesucht, das die Trivialromane seiner Vorlagen stets erwartbar aufdecken.

Die Absicht einer fortlaufenden Bilderzählung widerspricht der surrealistischen Technik der écriture automatique. So erstaunlich schnell Max Ernst auch gearbeitet hat, so sehr musste er doch eine Konzeption vor Augen haben. In den späten dreißiger Jahren notierte Max Ernst zu einer früheren Collagenfolge, er habe „mit Ausdauer und Methode komponiert“ – gleich drei Begriffe, die der „automatischen Schrift“ entgegenstehen. Näher liegt der surrealistische Topos des objet trouvé. Max Ernst findet in den Vorlagen, was ihm der zufällige Blick eingibt. Freilich eröffnen die Neuzusammensetzungen, die der Künstler aus disparaten Elementen – Leiber, Tierköpfe, Symbole – vornimmt, einen weiten Spielraum an Assoziationen. Denn was der Künstler zum Vorschein bringt, sind die Verdrängungen des 19. Jahrhunderts, sind Momentaufnahmen von Träumen, die zum Bersten angefüllt sind mit freudianisch zu deutenden Verweisen auf Lust und Grausamkeit, auf Angst und Begehren.

Max Ernst hat diesem, seinem dritten und letzten Collageroman keinerlei Bildunterschriften beigegeben, sondern lediglich die einzelnen Kapitel mit Hinweisen auf die „sieben Hauptelemente“ und ein zugehöriges „Beispiel“ versehen. Der Betrachter muss dieser Fährte nicht folgen. Er sieht, worum es geht: Um die Abgründe, die hinter den schweren Portieren gutbürgerlicher Wohnzimmer lauern, um die Angst vor „dem Weibe“, wie sie den Übermensch-Philosophen Nietzsche schüttelte, um das Eindringen des Unfasslichen in die geordnete Welt, unaufhaltsam wie die Wasser einer Flut (wovon in der Tat das zweite Heft „Dienstag“ handelt). Doch untergründig geht es um Männerfantasien von sex and crime.

Das zeigte zwar schon die Trivialliteratur, die als Vorlage diente. Nur schließt Max Ernst durch die Technik der Collage neue Deutungen auf, wie Worte, die mehrerlei bedeuten können. Dazu bot gerade die französische Sprache, in der Max Ernst seit seiner Übersiedelung nach Paris 1922 zu Hause war, mit ihrer Vielzahl von gleichlautenden Wörtern ein reiches Reservoir, das sich der Künstler bereits bei seinem ersten Collageroman von 1930, „La femme 100 têtes“, zu deutsch „Die hundertkopflose Frau“, zunutze gemacht hatte.

Die Verwandtschaft zur Literatur ist frappierend; Werner Spies hat darauf bereits in seinem grundlegenden Werk über die Collagen Max Ernsts, „Inventar und Widerspruch“ von 1974, hingewiesen, zu dem der jetzige Ausstellungskatalog eine, allerdings vorzügliche und bis in die letzte Tiefe gehende Ergänzung darstellt. Max Ernst zeigt sich in der Blattfolge „Une semaine de bonté“ als ein Sprachspieler in Bildern. Und doch sind diese Collagen, deren visueller Reichtum sich am schönsten erst in der Reihung der Wiener Ausstellung erschließt, keine Illustration, wie es der Kunst des Surrealismus – vielfach mit Recht – vorgehalten wurde. Max Ernst bewegt sich vielmehr auf einer Höhe mit Literatur und nimmt unsere Wahrnehmung ins Visier, unser Vermögen, parallel und untrennbar in Worten und Bildern, in flüchtigen Konstellationen und Assoziationen zugleich zu denken.

Max Ernst hatte den Ersten Weltkrieg mitgemacht. Es liegt nahe, die Zerstückelung der Collagetechnik auf das Zerfallen der Vorkriegswelt zu beziehen. Max Ernst hielt sich mit politischen Kommentaren zwar stets zurück, doch zeigt gerade die einmalige Ausleihe seiner wohlgehüteten Arbeiten ins republikanische Spanien sein waches Bewusstsein für die neuerliche Bedrohung der Freiheit. Dem Untergang der bürgerlichen Welt von Ordnung und Gesittung im Chaos der entfesselten Natur des Menschen setzen seine Collagen ein schaurig-schönes Denkmal.

Wien, Albertina, bis 27. April. Katalog bei DuMont, 22 €, im Buchhandel 39,90 €.

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