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Hüter der Moral. Erzpriester Wsewolod Tschaplin, Vorsitzender der Abteilung der Synode des Moskauer Patriarchats für Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft, beim 26. Kongress der Liberaldemokratischen Partei Russlands.

© Imago/ITAR-TASS

Wsewolod Tschaplins Fantasien: Vergewaltigung im Sexodrom

Literarische Fantasien unter Pseudonym: Russlands orthodoxer Erzpriester Wsewolod Tschaplin, ein erklärter Gegner des westlichen Liberalismus, hat sich nun als Autor einer apokalyptischen Science-Fiction-Novelle geoutet. Er wollte von der Hölle erzählen.

Dass er dem Westen die Pest an den Hals wünscht, überraschte niemanden. Wsewolod Tschaplin, Jahrgang 1968, als Erzpriester einer der prominentesten Kleriker der Russisch-Orthodoxen Kirche, hat aus seiner Ablehnung liberalen Denkens nie einen Hehl gemacht. Verblüffung löste hingegen die Nachricht aus, dass Tschaplin seine antimodernen Ansichten nicht nur als Prediger verbreitet, sondern auch als Literat: Wie die Tageszeitung „Nesawisimaja Gaseta“ enthüllte, stammt eine im russischsprachigen Internet unter dem Titel „Mascho und die Bären“ kursierende Erzählung aus seiner Feder.

Die im Jahre 2043 spielende Science-Fiction-Novelle nimmt Bezug auf das russische Volksmärchen „Mascha und der Bär“, ersetzt aber den weiblichen Vornamen der Titelheldin durch die sächliche Kunstform „Mascho“. Das ist Programm, denn im Moskau der Zukunft gibt es keine Frauen und Männer mehr, sondern nur noch geschlechtslose „Bioobjekte“, die ihre sexuellen Vorlieben im Tagesrhythmus wechseln. „Ich bin intersexuell“, lässt Tschaplin sein mehrfach geschlechtsoperiertes Protagonistenwesen erklären: „Ich kann sado oder maso sein, homo oder hetero, zoophil, pädo-, nekro- oder technophil und genauso gut nichts von all dem.“

Schnell wird klar, dass es sich bei dieser vorgeblichen Zukunftsvision um eine Karikatur der westlichen Gegenwart handelt, wie sie sich Teilen des orthodoxen Klerus darstellt – und wie sie im Ringen um die Ukraine zuletzt auch von russischen Propagandamedien ausgemalt wurde. In Tschaplins Überzeichnung wird der Liberalismus zur totalitären Diktatur: Seit der „Großen Sexualdemokratischen Revolution“ herrscht absolute Gleichheit unter den Moskauern, überwacht und durchgesetzt von einer Orwellschen Gedankenpolizei namens „Global Amnesty“, die jeden Abweichler vom Gebot der „Nulltoleranz gegenüber Intoleranz“ umgehend „euthanisiert“. In Unternehmensvorständen sitzen aus Gleichberechtigungsgründen Säuglinge, Affen und sabbernde Behinderte, den Kreml bewachen afrikanische Söldner, Beten ist verboten, die Kirche hat sich aufgelöst, ihre Gotteshäuser wurden zu „Sexodromen“ umgebaut.

Die „Moskauer Konföderation“ umfasst allerdings nur noch einen Teil des zerfallenen russischen Territoriums, und im Osten führt sie Krieg gegen äußere Feinde, die in der Erzählung anfangs nur „die Bären“ heißen. Wer diese rückständigen Wilden sind, erfährt Mascho, als die Titelfigur gegen Ende der Erzählung in Kriegsgefangenschaft gerät: Es sind die letzten wahren Russen, die ihre vom Untergang bedrohte Kultur in die Weite des Landes gerettet haben. „Die Tiere seid ihr“, muss sich Mascho von einem der „Bären“ anhören. „Ihr sagt, ihr seid für die Freiheit, aber bei euch fürchten sich die Menschen, auch nur ein wahres Wort zu sagen oder zu denken. Ihr sagt, ihr seid für die Demokratie, aber eure Herrscher haben aus Moskau ein elektronisches Konzentrationslager gemacht.“

Fürs Fluchen hat er etwas übrig

Hüter der Moral. Erzpriester Wsewolod Tschaplin, Vorsitzender der Abteilung der Synode des Moskauer Patriarchats für Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft, beim 26. Kongress der Liberaldemokratischen Partei Russlands.
Hüter der Moral. Erzpriester Wsewolod Tschaplin, Vorsitzender der Abteilung der Synode des Moskauer Patriarchats für Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft, beim 26. Kongress der Liberaldemokratischen Partei Russlands.

© Imago/ITAR-TASS

Als russische Science-Fiction-Fans der Erzählung Anfang Februar den Literaturpreis „Dämonenkampf“ verliehen (benannt nach einem wenig christlichen Comic), flog Tschaplins Urheberschaft auf. Unter dem Pseudonym „Aron Schemajer“, räumte der Kleriker im Interview mit der „Nesawisimaja Gaseta“ freimütig ein, habe er schon vorher gelegentlich Erzählungen veröffentlicht – um zu zeigen, „was geschehen kann, wenn wir dem Weg der ultraliberalen Werte folgen, Werten, die nur im Totalitarismus enden können, weil sie leblos und inhuman sind, weil sie die Natur des Menschen und der Gesellschaft vergewaltigen.“

Als Vorsitzender eines orthodoxen Gremiums für die Beziehungen zwischen Kirche und Gesellschaft hat sich Tschaplin in der Vergangenheit gelegentlich auch zu Fragen der Kunst geäußert. So erklärte er kürzlich zu Andrej Swjaginzews kirchenkritischem Russlandporträt „Leviathan“, der Film bediene in schwarzmalerischer Absicht ausländische Klischees: „Ich wundere mich nicht, dass er im Westen erfolgreich ist.“ Swjaginzews Film, der im Januar den Golden Globe Award gewann und bei der gestrigen Oscar-Verleihung als bester fremdsprachiger Film nominiert war, kommt dieser Tage in die russischen Kinos – allerdings nur in einer zensierten Version. Ausgeblendet werden Schimpfwörter, deren Verwendung in Kunstwerken neuerdings ein russisches Gesetz regelt (unzensiert läuft der Film ab dem 12. März in Deutschland).

An das Gesetz, dessen Beschluss die Kirche lautstark unterstützt hat, scheint sich Tschaplin selbst nicht gebunden zu fühlen. In „Mascho und die Bären“ legt er seinen Figuren durchweg drastische Flüche in den Mund. Von der „Nesawisimaja Gaseta“ nach diesem Widerspruch befragt, erklärte der Kleriker lapidar: „Ich musste die Hölle zeigen. Die Kreise, die eine totalitäre Gesellschaft anstreben, sprechen so.“

In der Hölle endet denn auch die Erzählung. Um die „Bären“ endgültig zu vernichten, läutet die „Moskauer Konföderation“ den nuklearen Endkampf der Kulturen ein, ihre eigene Auslöschung in Kauf nehmend. „Sie sind bereit zu sterben, nur damit wir nicht leben“, erklärt einer der Bären: „Das ist ihr Humanismus!“ Mit einem letzten großen Knall geht die Welt unter, und mit dem Ende der Erzählung beginnt „ein neues Jahrtausend“.

Träumt Russland von der Apokalypse? Als Literat schiebt Tschaplin den atomaren Erstschlag zwar den Liberalen in die Schuhe, doch als Kirchenfunktionär hat er sich auch schon im umgekehrten Sinne geäußert. „Nicht zufällig“, erklärte er im vergangenen Dezember, „haben wir oft um den Preis unseres eigenen Lebens globale Vorstöße aufgehalten, die unserem Gewissen, unserem Geschichtsbild und der göttlichen Wahrheit widersprachen – das napoleonische Projekt, das Projekt Hitlers. Auch das amerikanische Projekt werden wir aufhalten!“

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