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Kultur: "Young Euro Classic": Jeunesses Musicales Weltorchester

Die Urlaubsstimmung, die noch auf der Fahrt entlang der dalmatischen Küste geherrscht hat, ist verflogen. Wir durchqueren altes Kriegsgebiet mit verfallenen, ausgebrannten Häusern.

Die Urlaubsstimmung, die noch auf der Fahrt entlang der dalmatischen Küste geherrscht hat, ist verflogen. Wir durchqueren altes Kriegsgebiet mit verfallenen, ausgebrannten Häusern. Wenig später passieren wir Mostar. Menschen hausen in Blechhütten, Kinder spielen zwischen Ruinen. Dörfer liegen verlassen, dann wieder Gaststätten voller Besucher am Straßenrand. Die Straße, die Brücken, die wir passieren, das Wasserkraftwerk, alles ist neu, mit EU-Geldern finanziert. Um uns herum wilde, spektakuläre Gebirgslandschaft. "Wir müssen morgen ein gutes Konzert geben," sagt Loic, der junge französische Konzertmeister, bei der Rast.

Spät nachts erreichen wir Sarajevo. Gleich neben dem Studentenhotel erhebt sich die zu trauriger Berühmtheit gelangte Ruine des Zeitungshauses. Am nächsten Morgen Fahrt ins Zentrum zur Probe. Vorbei an zerstörten Wohnblöcken, ausgebrannten Hochhäusern. In den Fassaden klaffen große Löcher. Wohnungen sind teils zerstört, teils notdürftig wieder hergestellt, ein gespenstisches Bild. Im Zentrum dominieren neu gestrichene Fassaden über das ältere Einheitsgrau. Ein einstiger bosniakischer Kämpfer führt uns durch die Stadt. 23 Jahre ist er alt, jünger als manches Orchestermitglied. Mit 16 wurde er Soldat. "Wir sind Patrioten", sagt er, erzählt vom Krieg und der über dreijährigen Belagerung durch die serbische Armee. Die Hügel sind nah rings um die Innenstadt. Wer sie besetzt hielt, konnte die Stadt unter freien Beschuss nehmen. Unser Stadtführer lacht fast über die Absurdität des Krieges, deren Hintergründe er uns zu erklären versucht. Und die wir doch nicht verstehen.

Schlachten und Stuck

Fünf Jahre nach Kriegsende hat eine brüchige Normalität Einzug gehalten, gesichert nur durch die Soldaten der internationalen SFOR-Truppe, die im Straßenbild präsent sind. Am Abend füllen sich die Straßen mit Tausenden von Flaneuren. Arm wirken nur die wenigen Bettler, die von Café zu Café ziehen. Auf den Hügeln rings um die Stadt blinken die kalkweißen Stelen der riesigen Gräberfelder in der Abendsonne. Das Konzert findet im Armeehaus statt. In den Schaukästen hängen Fotos von Soldaten und Kriegsgerät. Den stucküberladenen Saal zieren patriotische Schlachtbilder, über der Bühne prangt das bosnische Staatswappen. Das Fernsehen ist da und filmt das Publikum. "Wir haben eine Mission", hat Dirigent Yakov Kreizberg sein Orchester eingeschworen. "Die Menschen sollen sehen, dass sie nicht von der Welt vergessen sind. Spielt das Konzert eures Lebens." Ausgerechnet an diesem Tag muss er nach London fliegen. Die nächsten vier Konzerte übernimmt seine Frau Amy Anderson. Die Anspannung ist den Musikern anzumerken. Doch es wird ein gutes, erfolgreiches Konzert.

Orchesterdirektorin Susanne Heyer stellt die Musiker vor. Wie zuvor in Zagreb und später in Belgrad erhalten sie alle Beifall. Nein, es gibt keine Ressentiments. Besonders bejubelt wird jeweils der heimische Vertreter, hier Belma, die junge Cellistin, die sich ein Pult mit dem Kroaten Neven teilt. Aus 35 Nationen und allen fünf Kontinenten kommen die Musiker des diesjährigen Jeunesses Musicales Weltorchesters mit Sitz in Berlin. Jedes Jahr wird ein Ensemble aus Musikstudenten zwischen 18 und 25 Jahren zusammengestellt, um unter der Leitung renommierter Dirigenten ein Konzertprogramm einzustudieren und auf Tournee zu gehen. Yakov Kreizberg, GMD der Komischen Oper Berlin, war die Reise durch die Staaten des ehemaligen Jugoslawien ein besonderes Anliegen: Das friedliche Zusammenleben und Zusammenarbeiten im Orchester sei ein Beispiel für das friedliche Zusammenleben verschiedener Völker und Volksgruppen. Auch das Auswärtige Amt zeigte sich von der Idee des Orchesters angetan und finanzierte die Reise.

Dauerregen und Schlagbäume

Anfang Juli fanden sich die Musiker zu einer Arbeitsphase in Oberreifenberg im Taunus zusammen: Mendelssohns Ouvertüre "Ein Sommernachtstraum" und Robert Schumanns Konzertstück für vier Hörner standen auf dem Programm, alternierend als Hauptwerk die jeweils zweite Symphonie von Brahms und Rachmaninow. Mit Widrigkeiten hatten sie von Anfang an zu kämpfen: Zwei Wochen deutscher Dauerregen war vor allem für die Südamerikaner und Australier nicht leicht zu verkraften. Auch in Zagreb regnet es bis eine Stunde vor Konzertbeginn in Strömen. Die Musiker müssen bei feuchter Kälte das Open-air-Podium besteigen - vor einem Häuflein unverzagter, verfrorener Konzertbesucher.

In Ljubljana öffnet man erstmals das Atrium der Hauptpost für ein Konzert. Doch die Synthese von historistischem Prunk und zurückhaltender Glas- und Stahl-Moderne erweist sich als akustische Katastrophe: Der Hall deckt sämtliche Details zu. Anders die Herausforderung in der romanischen Kirche St. Krsevan im kroatischen Küstenort Zadar: Hier machen die Kirchenpfeiler den Kontakt zum Stimmführer für manchen unmöglich. Zum härtesten Tag wird die fünfte Etappe: Für die Fahrt nach Kragujevac sind sieben Stunden Fahrtzeit eingeplant. Um 20 Uhr soll das Konzert in der 180 000 Einwohner zählenden Stadt südlich von Belgrad beginnen. Doch die kürzeste Strecke aus Sarajevo ist gesperrt. Wir müssen einen riesigen Umweg fahren. Die Straße ist schlecht und schmal. Immer wieder Kriegsruinen. Dann Gorazde, bosniakische Enklave, lange von den Serben unter Beschuss genommen. Gleich hinter der zerschossenen Stadt erneut die "Grenze" zur "Republika Srbska", dem autonomen serbischen Teil dieses kuriosen bosnischen Staates.

Kilometerlang fahren wir durch Dörfer, in denen kaum ein Haus heil geblieben ist. Serben gab es hier wenige, heute sind sie die einzigen Bewohner. An der Grenze nach Jugoslawien wieder lange Kontrollen. "Bleibt im Bus, die Jungs wirken sehr nervös hier," beschwört Susanne Heyer die Musiker. Przemyslaw, der polnische Geiger, hat kein bosnisches Visum, weil er nach Auskunft der bosnischen Botschaft keines braucht. Die Zöllner der "Republika Srbska" interessiert das nicht. Es fließt Geld, dann darf der erste Bus nach etwa einer Stunde Bosnien verlassen. Wenige hundert Meter weiter wartet der jugoslawische Zoll. Angeblich ist ein Papier aus dem Ministerium in Belgrad nicht an der Grenze angekommen. So eröffnen die Zöllner den "normalen Dienstweg". Wir warten in der sengenden Sonne. Endlich, nach über zwei langen Stunden, kommt ein Grenzer mit den Pässen. Wir dürfen einzeln den Schlagbaum passieren. Die Abfertigung für drei Busse und den Begleit-LKW hat fünf Stunden gedauert: Das Konzert scheint unmöglich geworden, zumal wir seit neun Stunden nichts gegessen haben. Doch Predrag, Komponist und Organisator von Jeunesses Musicales Jugoslawien, will auf keinen Fall absagen: 1000 Leute warten, und sie werden lange warten, das ist sicher.

Der Musiker als Staatsgast

Schließlich erreicht der erste Bus um 21.30 Uhr die Konzerthalle, der dritte kommt um 23 Uhr an. Die Musiker ziehen sich auf dem Parkplatz oder in der Garderobe um. Sie können es nicht fassen, dass ein Publikum über drei Stunden ausharrt, um sie zu hören. Viele sind ergriffen, es ist das erste Konzert eines ausländischen Orchesters seit Jahren in der Universitätsstadt.

Kragujevac wird, wie viele andere Großstädte Serbiens, von Oppositionspolitikern regiert. Wir werden behandelt wie Staatsgäste. Eine Polizeieskorte geleitet uns nach dem Konzert in ein Restaurant zum Büfett. Am nächsten Morgen beruft der Vize-Bürgermeister eine kleine Pressekonferenz im Rathaus ein, um der lokalen Presse von den Schikanen an der Grenze zu berichten.

Auch Belgrad, die Millionenstadt, wirkt grau und trist. Klapprige Ikarus-Busse bestimmen das Straßenbild. Der Mangel ist überall im Land zu spüren. Rest-Jugoslawien hat den Anschluss verloren. Die Fahrt zum Hotel führt über die Magistrale vorbei an Regierungsbauten, die seit den Nato-Bomben als Ruinen stehen, präzise aus dem Stadtgefüge herausseziert. "No problem," sagen unsere serbischen Begleiter, "everything is normal." In der Innenstadt wirbt eine große Plakatwand für Lucky Strike. An American Original. Die Nationenvorstellung am Abend in der größten Konzerthalle Belgrads geht problemlos über die Bühne. Nenad, der serbische Trompeter, wird begeistert gefeiert. Die Musiker freuen sich, dass sie erstmals in einem Raum mit guter Akustik spielen. Es wird das beste Konzert der Reise. Beim anschließenden Büfett hält der Jugendminister, leger im Polo-Shirt, eine kurze, launige Ansprache. Keiner mag daran denken, dass er mit Milosevic am Kabinettstisch sitzt.

Es wird spät an diesem Abend, wie meist. Am nächsten Morgen startet das von der jugoslawischen JAL gecharterte Flugzeug wegen technischer Probleme mit anderthalbstündiger Verspätung. Im mazedonischen Ohrid gibt es erneut Visumsprobleme: Wieder vergehen Stunden, fließt viel Geld. In Ohrid, einem Ferienort im Südwesten Mazedoniens, spielt das Weltorchester im Rahmen eines Sommerfestivals. Der schöne Platz vor der romanischen Kirche St. Sofia ist akustisch fatal. Denn das Fehlen jeglichen Nachhalls deckt auch kleinste Schwächen schonungslos auf. Ausgerechnet heute stehen den Bassisten nur Dreiviertelbässe zur Verfügung, Kontrabässe also, die um ein Viertel kleiner dimensioniert sind! Doch auch dieses Konzert wird ein Erfolg.

Im zweiten Teil ihrer Sommertournee wird sich das Weltorchester nun in den "klassischen" Musikzentren der Konkurrenz stellen. Nach einem Konzert vergangenen Sonnabend im Leipziger Gewandhaus stehen demnächst noch Prag und Hannover auf dem Programm.

Heute um 20 Uhr eröffnet das Jeunesses Musicales Weltorchester im Konzerthaus am Gendarmenmarkt den young.euro.classic - Musik Sommer Berlin 2000.

Arnt Cobbers

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