zum Hauptinhalt
Yuriy Gurzhy bei einem RotFront-Auftritt.

© Yuriy Gurzhy

Yuriy Gurzhys Kriegstagebuch (50): Und plötzlich ist München ganz still

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er, wie er den Krieg in der Ukraine verfolgt.

17. Juli 2022

Die Konzertanfrage aus München erreichte mich an meinem ersten Abend in Kiew – meine Band RotFront wurde eingeladen, bei einem großen Fest in der Muffathalle aufzutreten. Es wäre nicht das erste Mal gewesen – allerdings fanden unsere Konzerte bis dahin immer im kleineren Raum statt, die Verlegung in die große Halle hätte sich also toll angefühlt.

In die ukrainische Hauptstadt war ich gekommen, um Musik für Anastasiia Kosodiis neues Stück zu schreiben. Anastasiia habe ich 2017 bei der Premiere meiner HipHopera „Bandera“ kennengelernt. Ein Jahr später durfte ich Musik für die szenische Lesung ihres Stückes „Time traveller’s Guide To Donbass“ beisteuern.

Mein einstiger Musiklehrer aus Charkiw kommt zum Konzert

Ich war sehr vom Text und der Handlung angetan – im Jahre 2036 erfindet man in der Ukraine eine Zeitmaschine. Es wird eine Reise in die nicht allzu ferne Vergangenheit geplant, um herauszufinden, was der wahre Grund für den Krieg im Donbass war. Nun arbeiteten wir an einem neuen Stück mit dem Titel „Was ist jüdische Musik?“. Es sollte ums schwierige Thema der ukrainisch-jüdischen Beziehungen gehen.

Am Flughafen in Kiew, und auch später in der Stadt sah ich immer wieder Menschen mit Mund-Nase-Masken, während in den Nachrichten täglich von der Ausbreitung des neuen Virus berichtet wurde. Kaum war ich nach Berlin zurückgekehrt, ging es mit den Absagen und Terminverschiebungen los. Auch unsere Premiere in Kiew wurde mehrmals verschoben und dann doch abgesagt.

Als Anastasiia und ich uns im Frühling 2020 getroffen haben, konnten wir nicht ahnen, dass wir „Was ist Jüdische Musik?“ erst im Dezember 2021 spielen würden, und zwar nicht in Kiew oder Berlin, sondern in den Münchener Kammerspielen.

Im Rahmen des Festivals „Entfernte Nachbar*innen“ fanden dort mehrere Veranstaltungen mit Kiewer Theatern und Autoren statt. Es fühlte sich etwas irreal an, im Herzen von München, in unmittelbarer Nähe der schicken Einkaufsmeilen über Babyn Yar zu singen oder sich „Bad Roads“, den brutalen Film von Natalia Vorozhbyt über den russisch-ukrainischen Krieg, anzuschauen.

[Wenn Sie aktuelle Nachrichten zum Krieg in der Ukraine live auf Ihr Handy haben wollen, empfehlen wir Ihnen unsere App, die Sie hier für Apple- und Android-Geräte herunterladen können.]

Dieses Wochenende bin ich wieder in München. Im Sommer 2021 war es immer noch zu früh für große Veranstaltungen, also spielen wir erst jetzt das vor zwei Jahren geplantes Konzert in der Muffathalle. Meine Musikerkollegen und ich freuen uns riesig über das Wiedersehen, bei den Proben war die Stimmung euphorisch, jedoch im Bezug auf unser Repertoire habe ich viele Fragen.

Auch wenn es meine Muttersprache ist, fällt es mir schwer, auf russisch zu singen. Manche Songs kommen mir zu fröhlich rüber, ich kann mir gerade schwer vorstellen, sie zu performen… Und wenn ich eine Ansage zur aktuellen Lage in meiner Heimat machen müsste, was sollte ich sagen? Sollte ich das tanzende Publikum überhaupt darauf ansprechen? Oder gar nichts sagen? Nein, das geht nicht.

Vor dem Konzert treffe ich im Hof vor der Muffathalle Boris Yurievitsch, meinen Musiklehrer aus Charkiw, der Anfang der 2000er Jahre hierher gezogen ist. Ich frage ihn vorsichtig, ob sein altes Haus in Saltivka, dem Plattenbaugebiet im Nordosten von Charkiw, noch steht – seit Ende Februar wurde die Gegend fast täglich bombardiert.

Ich bitte das Publikum, den Krieg in der Ukraine nicht zu vergessen

Dann sehe ich Felix, lade ihn ein, sich zu uns zu setzen. Felix kenne ich seit Jahren, er kommt ursprünglich aus Zhitomir. Bis vor kurzem lebte dort auch seine 85-jährige Mutter, die sich weigerte, auszureisen – aber dann wurde ihre Straße beschossen. Nun ist sie in München, erzählt Felix.

Auf der Bühne klappt alles. Manchmal glaube ich fast, mich auf einem Konzert im Jahr 2020 zu befinden. Aber dann sehe ich Boris Yurievitsch und Felix, denke an Saltivka und Zhitomir. Und ich spreche das Publikum an, bedanke mich bei allen, die in Bayern ukrainische Flüchtlinge unterstützen und bitte sie, nicht damit aufzuhören und den Krieg in der Ukraine nicht zu vergessen. Im Raum wird es plötzlich still – all die Jahren, die wir spielen, haben wir eine solche Stille bei unseren Auftritten noch nie erlebt.

Lesen Sie hier weitere Teile des Tagebuches:

Yuriy Gurzhy

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false