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ZEIT Lupe (3): Die Ordnung ist weg

Zwischen den Jahren wendet sich die Zeit. Ein guter Moment, sich über sie Gedanken zu machen.

Zwischen den Jahren wendet sich die Zeit. Ein guter Moment, sich über sie Gedanken zu machen. Heute: die Nachspielzeit.

Ein Fußballspiel dauert 90 Minuten. Wer kennt sie nicht, diese Binse aus dem unerschöpflichen Binsenreservoir des Fußballs? Nur stimmt das gar nicht. Denn ein Fußballspiel dauert immer zwei bis vier Minuten länger, weil der Schiedsrichter wegen Verletzungen oder Raufereien nachspielen lässt. Man nennt diese Minuten „Nachspielzeit“. Gefürchtet ist diese Zeit dann, wenn das Spiel noch nicht entschieden ist. Man denke an das 4: 4 der deutschen Nationalmannschaft gegen Schweden, da war der Ausgleich der Schweden am Ende im wahrsten Sinn des Wortes nur eine Frage der Zeit, in diesem Fall der Nachspielzeit: Er fiel in der 93. Minute. Die Nachspielzeit kann also, um in der Rhetorik des Fußballs zu bleiben, „die Arbeit eines ganzen Jahres“ vernichten (Bayern–ManU 1999, Schalke nur „Meister der Herzen“ 2001 etc.). Will heißen: Eine ihrer hervorstechendsten Eigenschaften ist die Unordnung, die Regellosigkeit. Auf einmal geht es nur noch gegen Zeit und Uhr, egal wie, mit Ballwegschlagen und anderen hinterlistigen Verzögerungen. Und ist es nach den Weihnachtstagen nicht auch so, dass man die Uhr runterspielt, auf dass endlich was Neues komme? Werden die letzten Tage eines Jahres nicht von einer gewissen Regellosigkeit und Unordnung bestimmt? Das einzige Ziel, das noch angesteuert wird, ist die Silvesterfeier, und dann ist, Vorsicht, Fußballerbinse!, nach dem Spiel schon wieder vor dem Spiel.

Transportiert man die Nachspielzeit aus dem Fußball und dem Zeitloch zwischen den Jahren ins richtige Leben (was diese Tage und der Fußball ja auch sind), wird es kompliziert: Das Leben ist um, ein bisschen Zeit aber gibt es obendrauf. Sagen wir, die Mayas haben sich um ein Jahr verrechnet, der Weltuntergang ist erst am 21.12.2013 – wie nutzt man diese Nachspielzeit? Wie die Fußballer, in Unordnung, bestrebt, die Zeit schnell herumzubekommen? Besser nicht. Das Zeitgefühl dürfte in jedem Fall ein anderes werden, der Alltag wird umso wichtiger. Würde man noch einmal um die Welt reisen? Das wäre fatal, die Zeit geht dabei zu schnell um. Oder eine Uraltliebe wiedertreffen wollen? Auch fatal: Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, und Depressionen sind ein Zeitvernichter erster Güte.

Ach nein, lieber zurück zum Fußball, der Zeit tatsächlich „nachspielen“ lässt. Diese Minuten sind oft schwer auszuhalten. Wo aber wird einem heutzutage noch Zeit geschenkt? Das wiederum ist ein Anachronismus der besonderen Art.

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