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Zeit SCHRIFTEN: Auf der Spur des Minotaurus

An der Lebenszeit des Magazins gemessen, das Frank Berberich gerne als Ideal der Verbindung von Kunst und Literatur nennt, genießt „Lettre International“ längst die Wonnen der Unsterblichkeit. Mit nunmehr genau 100 Ausgaben in 25 Jahren (www.

Von Gregor Dotzauer

An der Lebenszeit des Magazins gemessen, das Frank Berberich gerne als Ideal der Verbindung von Kunst und Literatur nennt, genießt „Lettre International“ längst die Wonnen der Unsterblichkeit. Mit nunmehr genau 100 Ausgaben in 25 Jahren (www.lettre.de, 186 Seiten, 15 €) sind die 13 legendären Nummern von André Bretons und Pierre Mabilles „Minotaure“ um ein Vielfaches übertroffen – übrigens auch in der Auflage, die bei rund 20 000 Exemplaren liegen soll.

Ohne Mäzene und die Begeisterungsfähigkeit von René Magritte, Pablo Picasso oder Diego Rivera hätte die in einer Auflage von rund 800 Exemplaren erscheinende surrealistische „Revue artistique et littéraire“ aber nicht einmal die sechs Jahre erlebt, die ihr vergönnt waren, bevor sie 1939 der Zweite Weltkrieg verschluckte. (Der erste Jahrgang 1933 befindet sich in der Staatsbibliothek Unter den Linden, zusammen mit einem fast ebenso kostbaren Komplettreprint.)

Vielleicht ist sie für Berberich, den wohl dienstältesten Chefredakteur eines solchen transdisziplinären Unternehmens, auch deshalb Ansporn, den Widrigkeiten des Marktes bis heute zu trotzen. Von den 13 internationalen Ausgaben, die von „Lettre“ Anfang der 90er Jahre existierten, nachdem der Exiltscheche Antonín J. Liehm das Blatt 1984 in Paris gründete, gibt es heute nur noch sechs, darunter die deutsche. Immer wieder, angefangen mit Jörg Immendorff, hat Berberich Künstler gewonnen, die dem Heft mit ihren Gemälden und Fotografien visuelle Großzügigkeit verliehen – und durch Grafikeditionen Überlebenssicherung betrieben. Allein die Jubiläumsausgabe mit dem Titel „Niveau sans frontières“ versammelt zwei Dutzend namhafter Zeitgenossen wie Max Neumann und Daniel Richter, Filip Berte und Daniel Schwartz.

Der einzige Wunsch, den „Lettre“ nicht erfüllt, ist die Ausdehnung ins Dreidimensionale, ins Akustische und Bewegtbildhafte. Da waren die multimedialen Konvolute von Phyllis Johnsons „Aspen“ (online aufbereitet unter www.ubu.com/aspen), die von 1965 bis 1971 zwischen Pop Art, Psychedelia, Jazz und Spirituellem wilderten, so stilbildend wie unwiederholbar. Sie leben höchstens in der Verpackungslust der Produkte aus Dave Eggers’ Verlag McSweeney’s (www.macsweeneys.net) noch fort – oder zeugen in Gestalt der Zeitschriftenschachtel, die die Hildesheimer „Bella Triste“ (www.bellatriste.de) vor zwei Jahren als ihre 30. Ausgabe veröffentlichte, späte Nachfahren.

Aber es geht auch bei der 100. „Lettre“ in erster Linie ums Lesen, um die intellektuellen Haken, die man hier querfeldein schlagen kann. Vom Essay über den Unsinn der Generationengerechtigkeit (Heinz Bude) gelangt man umstandslos zu einem der letzten enzyklopädischen Gespräche mit Stéphane Hessel (Heinz-Norbert Jocks). Yang Lians Gedanken über „Chinas Kultur des Anything goes“ werden gut 30 Seiten weiter mit Yan Liankes Bemerkungen über die „Kultur des kollektiven Vergessens“ im Reich der Mitte fortgesetzt, bevor Liao Yiwu noch einmal 80 Seiten später eine „Elegie der Zeit“ singt – alles unter dem Leitthema, die Konturen der vergangenen 25 Jahre nachzuzeichnen.

Die Gesprächsprotokolle, die Swetlana Alexijewitsch zur Rolle des roten Marschalls Sergei Fjodorowitsch Achromejew anlegte, der sich 1991 mit den Augustputschisten gegen Gorbatschow solidarisiert hatte, treffen auf Abdelwahab Meddebs Brandrede wider den Kurs der Salafisten und Wahhabisten. Die Amerikanerin Elif Batuman zieht mit Shakespeare durch Anatolien, und Alice Gregory schreibt über ihre Zeit bei Sotheby’s. Wie leben wir mit dieser Reiz- und Informationsüberflutung, könnte man da mit dem Netztheoretiker Geert Lovink fragen, der einen wütenden Aufsatz gegen den „Social-Media-Hype“ beigesteuert hat.

Die Empfehlung kann in diesem Fall nur lauten: möglichst lange, nämlich bis zum Erscheinen des nächsten Hefts in einem Vierteljahr. Und: am besten Stück für Stück. Denn obwohl Komposition und Leserführung nicht die augenfälligen Stärken von „Lettre“ sind, so ist es doch gerade das neugierig nach allen Seiten Wuchernde. In der schier grenzenlosen Ausdehnung könnte auch die Hoffnung liegen, irgendwann wieder etwas Verbindendes in den Blick zu bekommen.

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