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Zeit SCHRIFTEN: Digitales Futter für Insekten

In aller Unschuld neu waren die Gedichte, die Walter Höllerer 1969 unter dem Titel „Systeme“ veröffentlichte, ausschließlich im Jahr ihres Erscheinens. Dass sie darüber hinaus den Anspruch erhoben, „Neue Gedichte“ zu sein, situierte sie bewusst im Werk des Autors, bedrohte sie aber zugleich damit, von noch neueren Gedichten eingeholt zu werden.

Von Gregor Dotzauer

In aller Unschuld neu waren die Gedichte, die Walter Höllerer 1969 unter dem Titel „Systeme“ veröffentlichte, ausschließlich im Jahr ihres Erscheinens. Dass sie darüber hinaus den Anspruch erhoben, „Neue Gedichte“ zu sein, situierte sie bewusst im Werk des Autors, bedrohte sie aber zugleich damit, von noch neueren Gedichten eingeholt zu werden. Was sie dagegen zu „neu gebliebenen Gedichten“ macht, die Dieter M. Gräf nun zusammen mit aus dem Band aussortierten Exemplaren und Entwürfen beim Wiederlesen für die von Höllerer begründete Zeitschrift „Sprache im technischen Zeitalter“ (Nr. 203, Einzelheft 14 €, www.spritz.de) entdeckt hat, lässt sich wohl nur klären, wenn man ihren historischen Index nicht verschweigt. Denn zumal in unmittelbarer Konkurrenz mit gerade erst entstandenen Gedichten von Ann Cotten, Richard Duraj oder Konstantin Ames, wie sie in der fünften Ausgabe der „Randnummer“ (8 €, www.randnummer.org) zu lesen sind, kann man ihnen vieles zugute halten. Staunenswerte Dichte, Dringlichkeit, Gedanklichkeit – bloß keine Zeitgenossenschaft.

Der Lyriker Tom Bresemann, Jahrgang 1978, der die bisher unbekannten Texte aus dem Nachlass von Walter Höllerer (1922-2003) im Literaturarchiv von dessen oberpfälzischer Geburtsstadt Sulzbach-Rosenberg ausgegraben und beiden Zeitschriften im manchmal partiturhaft über die Schreibmaschinenseite flottierenden Faksimile überlassen hat, scheint in ihnen indes eine politische Widerständigkeit zu sehen, die seiner Generation fehlt. Was für ihn schon die Suche nach den poetischen Großvätern sein muss, ist für Gräf, Jahrgang 1960, noch die Suche nach den Vätern – allerdings ohne deren klassenkämpferisches Pathos.

„Nicht von Arbeitern ist hier die Rede“, wie es in Höllerers Langgedicht „Die Stimme von Blake“ in der „Randnummer“ heißt, nicht „von Industrie und Proletariat, es ist die / Rede von jungen Technikern, die // mit dem flippenden Geräusch einer angeblichen / Nichtanstrengung die Sicht / verändern und eine / dahinstreichende Zeit“. Die Welt der Programmierer beginnt ihre Bewohner zu konditionieren und ruft nach Verweigerung; „die scharfe Linie der Affirmation / gebrochen / und dann die Versuchsanordnung / dem Phantastischen Benennbares abzugewinnen / durch / auf ja-und-nein-Futter / abgerichtete / Insekten“.

Gräfs Hang zur Kanonisierung, der den Dichter zwischen amerikanischen Beat Poets und Rolf Dieter Brinkmann ansiedelt, und Bresemanns Neigung, aus Höllerers sprachanalytischer Kybernetik noch einmal Subversionsfunken zu schlagen, mögen zwei Seiten derselben Sache sein. Das überraschende Interesse am Dichter Höllerer dürfte ansonsten aber weiterhin der seltenen Dreieinigkeit von Schriftsteller, Literaturwissenschaftler an der Technischen Universität und Erfinder des „Literarischen Colloquiums“ am Wannsee geschuldet sein. Helmut Böttiger charakterisiert ihn in seinem gerade erschienenem Buch „Die Gruppe 47“ (DVA), das ausführliche Passagen über Höllerer enthält, treffend als temperamentvollen Funktionär, der seine Betriebsgeschmeidigkeit doch mit dem Bewusstsein eines Schriftstellers in Schach zu halten wusste.

Noch ist der Sulzbach-RosenbergerNachlass (www.literaturarchiv.de), in dem auch er geforscht hat, aber nicht komplett erschlossen. Die 250 Aktenordner, 300 Mappen und 825 Audiocassetten, die er umfasst, sowie die Korrespondenz, die Höllerer und Hans Bender als Redakteure der „Akzente“ in den Jahren 1954 bis 1970 führten, harren einer Einordnung, die sich vielleicht auch deshalb so schwer leisten lässt, weil Höllerer zwischen seinen vielen Talenten tatsächlich zerrissen war und etwa darunter litt, als Schriftsteller nicht ausreichend wahrgenommen zu werden.

„Maß nehmen an Höllerer“: Was „Sprache im technischen Zeitalter“ als Motto seines Höllerer-Schwerpunkts gewählt hat, der auch Joachim Sartorius’ in dieser Zeitung unlängst in Teilen dokumentierte Gedenkvorlesung enthält, ist also wahrscheinlich vermessen – und sicher nicht besonders gesund: „eine gehirnwindung nässt durch und /kombiniert etwas mit etwas / jedenfalls ich in eine kombination gebracht und / sogleich zerlegt“.

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