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Zeit SCHRIFTEN: Jamben, Trochäen, Algorithmen

Als Jean Paul 1789 in seiner Erzählung „Der Maschinenmann“ Konzerte erträumte, deren Stücke erst erwürfelt, dann von einer „Extemporisiermaschine“ notiert und schließlich von Automaten aufgeführt würden, da war dies buchstäblich Zukunftsmusik. Wie hätte er ahnen sollen, dass MIDI-Sequenzer, Komponier- und Notationsprogramme heute jedem begabten Dilettanten zu titanischen Leistungen verhelfen?

Von Gregor Dotzauer

Als Jean Paul 1789 in seiner Erzählung „Der Maschinenmann“ Konzerte erträumte, deren Stücke erst erwürfelt, dann von einer „Extemporisiermaschine“ notiert und schließlich von Automaten aufgeführt würden, da war dies buchstäblich Zukunftsmusik. Wie hätte er ahnen sollen, dass MIDI-Sequenzer, Komponier- und Notationsprogramme heute jedem begabten Dilettanten zu titanischen Leistungen verhelfen? Zugleich war Jean Pauls Schwärmerei für ein Wesen, das in allen seinen Fähigkeiten umso vollkommener sei, „je mehr es mit Maschinen wirkt und je mehr es Arme, Beine, Kunst, Gedächtnis, Verstand außer seinem Ich liegend sieht“, bittere Satire. Sie richtete sich gegen einen mechanisch, formelhaft und materialistisch denkenden Zeitgenossen: den „Genius des achtzehnten Jahrhunderts“.

Zumindest in der Kunst dürfte sich die Grundspannung von maschinell befreiter und maschinell geknechteter Seele auch im 21. Jahrhundert kaum verändert haben. Jeder Ausweg aus der Innerlichkeit des Menschen, jeder Versuch, sein begrenztes, zwangsläufig in Wiederholungen, wenn nicht Phrasen mündendes Vokabular zu überwinden, führt nur in neue Sackgassen. Das schlagendste Beispiel dafür ist und bleibt die Zwölftonmusik. Der Wunsch, die träge Inspiration des Komponisten methodisch auszutricksen, schuf nur ein anderes Gefängnis.

Dass sich jedes Kunstwerk dennoch als rein kombinatorisches Unternehmen betrachten lässt, hält den Traum von maschineller Kreativität indes lebendig, wie Hans Magnus Enzensberger in seiner berühmten „Einladung zu einem Poesie-Automaten“ (jacketmagazine.com/17/enz-robot.html) ausführlich erklärt.

Zwei Seelen schlagen in der Brust eines jeden Freundes automatischer Text- oder Musikerzeugung – auch in der von Stephan Krass. Als begeisterter Sprachspieler (www.stephan-krass.de), der im wöchentlichen Wechsel mit Enzensberger den Poesie-Automaten im Marbacher Literaturmuseum der Moderne füttert, hat er den Poesiegenerator Genero erfunden – als genervter Leser von literaturkritischen Floskeln daraus den Rezensionsgenerator Censeo entwickelt. Bestückt mit Texten aus Marcel Reich-Ranickis Lyrikreihe „Frankfurter Anthologie“, spuckt er Passepartout-Besprechungen aus. Eine Erfahrung, die Krass mit einer Verneigung vor Jean Paul als dem geistigen Vater seines Projekts in dem Buch „Der Rezensionsautomat“ (Wilhelm Fink, München 2011, 153 S., 16,90 €) reflektiert.

Wie man mit Hilfe des Poetron4G, vier vorzugebenden Wörtern und einem semantisch minderbemittelten Zufallsgenerator selber abenteuerlich moderne Lyrik hervorbringt, kann man unter www.poetron-zone.de nach wie vor hochkomisch ergründen. Wie man das Erfinderische solcher Programme zurück ins Analytische wendet, zeigt die nagelneue Version des Metricalizer (www.metricalizer.de), die im Zeitalter des freien Verses noch einmal die Untiefen der deutschen Verslehre in binär codierte Regeln aufzulösen versucht.

Welch schulische Qualen konnten es sein, Versfüße wie Jambus, Trochäus oder Daktylus und Versmaße wie die Ode oder das Distichon zu entschlüsseln. Die metrische Analyse des Linguisten Klemens Bobenhausen erledigt das nun mit einer hohen Trefferquote.

Nur: Wozu? „Warum haben denn viele Schüler Berührungsängste vor Lyrikanalyse“, fragt im Forum eine ärgerliche Leserin und wehrt sich mit Recht gegen die Annahme, jedes Gedicht enthalte genau ein Metrum, „das sich im Text verbirgt wie ein Osterei im Gras“. So musikalisch sich Verse betrachten lassen – kein Gedicht wiegt sich beim Vortrag in der satzmelodischen Sicherheit, mit der ein Walzer seinen Dreivierteltakt ausbuchstabiert. Die Aufgebrachte gibt sich indes selbst die Antwort: Man benutzt die Fachbegriffe, um „mitteilbar zu machen, was angeblich nicht mitzuteilen ist: das rhythmische Erlebnis.“ Genau darum geht es.

Das Zählen und Wiegen von betonten und unbetonten Silben mag manchmal zum akademischen Selbstzweck verkommen. Im Idealfall hat es der Dichter verinnerlicht – zur Umgehung metrischer Stolperfallen. Auch für sie gilt aber im Zweifel ein Wort des ungarischen Dichters Attila József: Die Poesie ist eine Logik, keine Wissenschaft.

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