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Ob es auf der anderen Seite wohl wieder runtergeht? Heute jagt die Tour-de-France-Meute über den Mont Ventoux

© Stephane Mantey/AFP

Zeitschrift "die horen": Im Meer der Berge

Wo hinter dem Gipfel eine neue Welt beginnt: Die "Horen" widmen ihr jüngstes Heft der Faszinationen von Bergübergängen. Eine Zeitschriftenkolumne.

Von Gregor Dotzauer

Der Ruf des Abenteurertums lebt im Wesentlichen von Seefahrern und Bergsteigern. Selbst wer die Ferne nur als Kapitän eines Schlauchboots sucht oder in Kletterhallen seinen Everest bezwingt, ahnt etwas von den Bewährungsproben, denen man sich aussetzen kann. Ganze Bibliotheken zeugen davon, was es heißt, persönlichen Sinn in einer Welt ohne Sinn herzustellen, wie Reinhold Messner seine extremistische Lebenskunst in einem Band der Edition Suhrkamp genannt hat. Joseph Conrads ebenso kurzer wie umwerfender Roman „Die Schattenlinie“, den Daniel Göske gerade bei Hanser neu übersetzt hat, bemüht sich genau darum, wenn der Ich-Erzähler sein Schiff mit einer vom Tropenfieber zerfressenen Mannschaft nach tagelanger Flaute in einem Kraftakt von Hoffnung wider alle Hoffnung von Bangkok nach Singapur bringt.

So verschieden Berg und Meer in ihren Launen sind, so verwandt sind sie auf andere Weise. Die Literaturwissenschaftler Andreas Erb und Christof Hamann haben für „die horen“ (Nr. 266, Wallstein Verlag, 233 Seiten, Einzelheft 14 €) rund 80 Schriftsteller, Künstler und Essayisten um Beiträge zum Thema „Bergübergänge“ gebeten. Die gesammelten Grenzerfahrungen zeugen schon durch das auf den Schweizer St. Gotthard bezogene Motto aus Schillers „Wilhelm Tell“ („… immer steigend, kommt Ihr auf die Höhen“) weniger von lebensgefährlichen Risikounternehmungen als von erhebenden, manchmal spirituellen Passagen zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten – um Abenteuer der Wahrnehmung.

Der rätoromanische Schriftsteller Leo Tuor, bekannt für die „Surselver Trilogie“ aus seiner Graubündener Heimat, erinnert in „Fuorcla Melna“ über einen Pass im Val Canal an Napoleons Überquerung der Alpen: „Das Gefühl des Neuen weht Menschen und Tieren auf einer Passhöhe seit der Aufklärung entgegen und lässt sie, im Gegensatz zu Automobilen und Motorrädern, für einen Moment innehalten und staunen. Es ist jenem Staunen der Griechen bei Xenophon ähnlich, als sie nach langen Strapazen wider Erwarten vom Berg Theches bei Trapezunt das Schwarze Meer erblickten, in voller Rüstung sich in die Arme fielen, und Thalatta! Thalatta! schrien. Das Meer ist für den Griechen Heimat und Mutter. Ebenso für den Bergler. Das Meer der Berge, in dem er zuhause ist, wird ihm auf jedem richtigen Berg gewahr.“

Käse, Butter und Theologie

Tuor, der mit seiner Frau, der Neutestamentlerin Christina Tuor-Kurth auf der gemeinsamen Website www.tuors.ch Käse, Butter, Frischkäse, Theologie und Literatur in friedlicher Koexistenz anbietet, könnte die Dimensionen noch weiter vermischen, wenn er sie ums Metaphysische erweitern würde, das sich mit der berühmtesten literarisch dokumentierten Bergbesteigung der westlichen Kultur, Francesco Petrarcas Aufstieg zum Mont Ventoux im Jahre 1336, verbindet.

Das übernimmt Heribert Kuhn. Er erklärt, wie Petrarca mit den augustinischen „Bekenntnissen“ in der Hand den verirrungsreichen Marsch zu einem Gipfel antrat, der ihm als reine „Kontaktstelle des Göttlichen“ erschienen war, während ihm dämmerte, dass die körperliche Mühsal gegenüber dem reinen Aufstieg des Geistes ihren Tribut forderte. Kuhn behauptet, dass Petrarca auf seiner Pilgerschaft zum ersten Mal die notwendige Trennung vom sinnlichen Buch der Natur zu ihrem Gehalt nach der unsichtbaren Heiligen Schrift begriffen habe.

Gewohnt ironisch gibt sich Guy Helminger. Er erfindet den Gaardepass in den luxemburgischen Ardennen. „Unzählige Bergketten“, schwärmt er, würden „von einer reichen Mythologie erzählen, von einer Tradition des Übertritts in eine Welt jenseits des Begehbaren.“ Der Gaardepass sei der einzige Pass auf der Welt, „bei dem Anfang und Ende übereinstimmen“.

Zur Vorbeugung gegen jeglichen Bergkoller empfiehlt sich Jürgen Reuß’ Fundstück aus den Fantasiegebirgen des Stubenhockers und „fußlosen Wanderers“ H. P. Lovecraft: „Einen Blick in eine nie betretene Welt zu tun, ist kaum mit Worten zu beschreiben, obschon wir keinen Grund zu der Annahme hatten, dass die Gebiete jenseits des Kammes sich wesentlich von denen unterschieden, die wir schon gesehen und durchquert hatten.“ In diesem Sinne: Frischauf!

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