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Zeitschriften: Das Glück der Albernen

Die Leipziger Literaturzeitschrift "Edit" wirbt für einen Kanon kurzer Bücher. Aber ist Ludwig Wittgensteins "Tractatus" auch schnell gelesen?

Von Gregor Dotzauer

Listen sind, wie ihr Chefpoetologe Umberto Eco behauptet, der „Ursprung der Kultur“. Als Versuch, „die Unendlichkeit fassbar zu machen“, vermitteln sie zwischen der Kontingenz allen Wissens und der Begrenztheit des menschlichen Daseins. Aber ach, wie oft sind auch sie zu lang, und wie sehr strapaziert auch ihre Ordnung den geistigen Haushalt. Der Kanon kurzer Bücher, den „Der Umblätterer“ (www.umblaetterer.de) erstellt hat, kann sofort zu neuen lebenszeitvernichtenden Abwägungen führen. Denn was empfiehlt man dem Publikum, indem man 336 Titel, von Herbert Achternbuschs „Macht des Löwengebrülls“ bis zu Stefan Zweigs „Schachnovelle“, nominiert? „Statt 4000 Seiten lang Prousts ,Recherche’ zu lesen, könnt ihr auch 40 Hundertseiter lesen“, erklärt Frank Fischer in einem „Lob des 100-Seiten-Buchs“, das die Auswahl in der Leipziger „Edit“ (Nr. 61, 128 S., 5 €, www.editonline.de) vorstellt. „Da habt ihr rein rechnerisch mehr davon, nämlich bis zu 39 Autoren, auf jeden Fall aber 39 Werke mehr, bei sozusagen gleich bleibender Strecke.“

Verräterisch ist das Wort „sozusagen“ – weniger, weil es sich angesichts wechselnder Seitenumfänge auf ein Toleranzspektrum von 100 000 bis 225 000 Zeichen bezieht, sondern weil sich Wittgensteins „Tractatus logico-philosophicus“ oder Kants „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ nicht mal eben schnell zwischen Frühstück und Mittagessen wegzwitschern lassen. Aber wem sagt man das? Das Ganze ist ein Spiel, und die wiederum auf rund 1500 Zeichen beschränkten Texte aus der Feder eines weitläufigen Consortium Feuilletonorum Insanieque, die dazu seit zwei Jahren entstehen, sind es nicht minder. Einer „Phänomenologie des koffeinierten Geistes“ folgend, verstehen sie sich als „verhaltene Antirezension“ oder anekdotische „Laudatio im Kaffeehausstil“, immer aus auf den auch in bildungswütigeren Breiten wenig eingeführten „pindarischen Sprung“, das „überstürzte Assoziieren, wie es im Gespräch zwischen sinnlos überinformierten Menschen eben vor sich geht.“

Hopplahopp muss es schließlich auf allen Ebenen gehen. So liegt der große Spaß dieses Unternehmens zum einen im wilden Kombinieren weit auseinanderliegender Genres: Der Kanon umfasst auch Wallace D. Wattles’ Selbsthilfeklassiker „The Science of Getting Rich“ wie Peter Hacks’ Antiromantikpamphlet „Zur Romantik“. Zum anderen liegt er in der zielsicheren Willkür, mit der sich ein Laudator zwischen U-Bahn und Party mal kurz Fontanes „Grete Minde“ einverleiben will und ein anderer sich vorzugsweise einzelne, gar wunderliche Sätze herauspickt. Letzteres führte zu einer vor kurzem abgeschlossenen Ulla-Berkéwicz-Festwoche, die in sieben Teilen der „klassischen Hundertseiterautorin der Gegenwart“ huldigte. Ob dabei tatsächlich „neue Formen“ entstanden sind, darf man bezweifeln. Aber auf die stets neu zu definierende Kunst des Registerwechsels zwischen den Höhen und Tiefen ironischen Sprechens verstehen sich die besten Texte blendend.

„Das Alberne hat Glück“, stellt in derselben „Edit“-Ausgabe Monika Rinck in ihren Anmerkungen „39 Jahre nach der Revolution der poetischen Sprache“ fest, die die Starsemiologin Julia Kristeva im Spannungsfeld von Linguistik und Psychoanalyse einst ausgerufen hatte. Doch so theoriegesättigt diese Prosa mit Zitaten von Foucault und Lévi-Strauss vor sich hinwuchert – es geht hier gerade nicht darum, etwas Bestimmtes zu sagen, sondern das Material so mürbe zu machen, bis es etwas Überraschendes preisgibt: „Es ist nicht ausgeschlossen, dass das Neue, um ans Licht zu kommen, einen dunklen Korridor der Dummheit durchqueren muss.“ Und: „Womöglich bringt die poetische Sprache zur Akzentuierung ihres Aufklärungs- oder Erneuerungspotenzials immer ein gewisses Maß an Verdunkelung mit sich.“

Das ist ein Freibrief für vielerlei Unsinn – auch wo er sich wie bei Rincks Dichterkollegen Norbert Lange auf tiefe Bewunderung berufen kann. Die Proben aus seinen „Dummkopfelegien“, einer Hommage an Rilkes „Duineser Elegien“, drehen jedem Vers den lautlichen Kragen mittelhochdeutsch bis schwittershaft um. Der partielle Reiz des Verfahrens hat seinen Preis: Er zerstört Rilkes Gedanklichkeit, ohne ihr eine neue hinzuzufügen. Das Ergebnis ist nicht parodistisch, aber parasitär.

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