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Letzter Schrei. Herrmann Gersons Warenhaus, hier um 1890 , stattete die feine Berliner Gesellschaft aus.

© Sammlung Kessemeier

Zerstörte Vielfalt, geraubte Mitte: Vertreibung aus dem Feentempel der Mode

Das Modehaus Gerson war im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert eine Institution am Wederschen Markt. Dann kamen die Nazis und zerstörten mit dem Geschäft auch eine jüdische Familie. Die Mode- und Zeithistorikerin Gesa Kessemeier hat ihr Schicksal erforscht.

Zwei elegante Damen drehen sich bei der Anprobe vor dem Spiegel, zwei andere schauen zu. 1927 druckt die Berliner Illustrierte „Sport im Bild“ die Innenaufnahme aus dem Modehaus Herrmann Gerson am Werderschen Markt: damals eine führende Adresse für feine Garderobe. Was die Leser nicht ahnen: Die Dame links im Bild ist Helene Freudenberg, damals 32, Enkelin des Firmenpatriarchen Philipp Freudenberg. 1934 emigriert sie mit ihrer Familie in die Niederlande. Die Töchter Bertha und Margarete werden 1942 in Auschwitz ermordet, der Ehemann in Bergen-Belsen. Helene Freudenberg, die noch Mitte April 1945 nach Theresienstadt gebracht werden sollte, stirbt unmittelbar nach der Befreiung durch die Rote Armee in Sachsen.

Die Berliner Mode- und Zeithistorikerin Gesa Kessemeier hat Helene Freudenbergs Schicksal rekonstruiert – wie die Lebensumstände zahlreicher weiterer Mitglieder, Freunde und Geschäftspartner der Familie sowie die Geschichte des Modehauses Gerson. Ihr Buch „Ein Feentempel der Mode“ ist nicht nur für Berlin-Kenner und Modeliebhaber interessant. Exemplarisch stehen die Freudenbergs für Aufstieg, Entrechtung und Vernichtung jüdischer Familien. Und für die „Entjudung des Berliner Grundbesitzes“, wie es in den dreißiger Jahren unverhohlen hieß. Die Geschichte des Mode- und Einrichtungshauses Gerson und seiner Besitzerfamilie ist ein Fallbeispiel der Ausstellung „Geraubte Mitte“ im Ephraim-Palais. Fotos und Fakten dieses Ausstellungsteils hat Gesa Kessemeier recherchiert. Sie selbst bezeichnet sich als „Gerson-Nerd“.

Eine europäische Top-Adresse

Ein Begriff war der Modespezialistin, die sich seit 2010 mit dem Thema beschäftigt, der Name schon länger. Für ihre Dissertation, in der sie sich mit Geschlechterbildern in der Mode der zwanziger Jahre beschäftigt hat, sah sie zeitgenössische Mode- und Lifestylejournale durch: „Man findet praktisch in jeder Ausgabe von ‚Die Dame‘, ‚Elegante Welt‘ oder ‚Sport im Bild‘ etwas über Herrmann Gerson. Der Name war bekannt, aber eigentlich wusste niemand wirklich etwas darüber.“

Dabei war das Modehaus, in dem der Textilkaufmann Philipp Freudenberg 1889 als Teilhaber einstieg und 1891 Alleinbesitzer wurde, schon Mitte des 19. Jahrhunderts eine Topadresse, Hoflieferant in Berlin, Stockholm, St. Petersburg. Der Krönungsmantel, den Wilhelm I. 1861 in Königsberg trug, stammte von Gerson. Das Firmenarchiv ging verloren, weshalb es, vermutet Kessemeier, bislang keine Monografie zur Firmengeschichte gab.

Mit den Geschäftshäusern Werderscher Markt 5-6 und Werderstraße 9-12 besaß die Firma Gerson zwei Kaufhauspaläste, einer für Mode, einer für exklusive Möbel aus eigener Werkstatt, beide in Sichtweite des Schlosses gelegen und mehrfach im neuesten Zeitgeschmack umgebaut. Kurz nach der Jahrhundertwende vollzog Gerson einen Schwenk von traditioneller Gediegenheit zur Moderne. Alfred Mohrbutter und Hermann Muthesius modernisierten die Geschäftsräume, der Pariser Modeavantgardist Paul Poiret, der die Frauen vom Korsett befreite und ihnen sogar Hosen zugestand, feierte bei Gerson erste Berliner Triumphe.

Hermann Freudenberg, einer der Söhne Philipps, ließ sich von Muthesius in Nikolassee ein Landhaus bauen, das bis heute vom Schönheitssinn reformorientierter Großbürger erzählt. In Detektivarbeit hat Gesa Kessemeier die Kunstsammlung der Familie rekonstruiert, zu der Gemälde von van Gogh, Matisse, Liebermann und Feininger gehörten. Von den meisten Bildern trennte sich die Familie, um die drohende Insolvenz abzuwenden, und verkaufte an Freunde und Nachbarn – heute eher kein Fall für Restitutionsanwälte. Gleichwohl ging ein Feininger-Gemälde, das die Töchter von Hermann Freudenberg 1932 als Leihgabe an die Berliner Nationalgalerie gaben und das sich seit 1949 wieder dort befindet, 2008 als Zweifelsfall durch die Presse.

Keine Gedenktafel erinnert heute an das Modehaus

1932 wurden die Freudenbergs von der Weltwirtschaftskrise eingeholt. Die Firma durchlief – erfolgversprechend – ein Insolvenzverfahren, doch die angelaufene Sanierung wurde durch den Machtantritt der Nazis gestoppt, Kredite verweigert, Steuervergünstigungen zurückgezogen. Louis Goldschmidt, den neuen Hauptgesellschafter, nahmen die Nazis im März 1933 in „Schutzhaft“, drängten ihn in die Emigration. Auch die Familienmitglieder emigrierten bis Mitte der dreißiger Jahre – einige innerhalb Europas, was sie das Leben kostete, andere, wie der letzte Geschäftsführer Georg Freudenberg, nach Palästina, wo noch zwei Söhne leben, geboren 1924 und 1927 in Berlin.

Nach der Zerschlagung der Stammhäuser und der „Arisierung“ einer Filiale am Tauentzien durch die Brüder Horn wurden die verbliebenen Immobilien 1936/37 zwangsversteigert. Das Grundstück des Möbelhauses hatte sich die Reichsbank gesichert, das Modehaus ließ das Deutsche Reich über Banken erwerben, das Landhaus in Nikolassee kaufte die Stadt Berlin – alles zu Schnäppchenpreisen. Bei derartigen staatlichen Raubzügen arbeiteten Finanzämter, Banken, staatliche und kommunale Entscheidungsträger und private Profiteure Hand in Hand. Ein Schein von Rechtstaatlichkeit blieb dabei gewahrt. Täterakten, so Kessemeier, „kann man nur richtig verstehen, wenn man über einen historischen Background verfügt und nicht alles glaubt, was dort steht“.

Den „Feentempel der Mode“ baute der NS-Staat schließlich zum Reichskriminalpolizeiamt um. Heydrichs Reichssicherheitshauptamt unterstellt, wurden hier technische Voraussetzungen für Euthanasiemorde und Massenvergasungen erprobt. Heute sind die Grundstücke vom Auswärtigen Amt und durch ein Hotel überbaut. Keine Gedenktafel erinnert an die früheren Besitzer.

Im Restitutionsverfahren 1953 wurde Georg Freudenberg vorgeworfen, er sei seinen Verfolgern zu höflich begegnet. Alle Ansprüche wurden abgelehnt. Freudenbergs Söhne ließen nach 1990 die Restitutionsfrist verstreichen, wohl um sich nicht noch einmal sagen lassen zu müssen, ihre Eltern und Großeltern seien schlechte Geschäftsleute gewesen. Auf Kessemeiers Buch habe die Familie positiv reagiert. „Mir geht es“, sagt die Historikerin, „um moralische Rehabilitierung.“

Gesa Kessemeier: Ein Feentempel der Mode oder Eine vergessene Familie, ein ausgelöschter Ort. Die Familie Freudenberg und das Modehaus „Herrmann Gerson“. Verlag Hentrich & Hentrich, 22 €. Ausstellung „Geraubte Mitte“: Stiftung Stadtmuseum im Ephraim-Palais, bis 19. Januar 2014.

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