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Kultur: Zettels Raum

Berlin würdigt den Regisseur Stanley Kubrick im Martin-Gropius-Bau

In Spike Jonzes Kinokomödie „Being John Malkovich“ kann man erleben, wie es im Kopf von John Malkovich aussieht: eine kleine Hintertür, und schon ist man drin in den Gehirnwindungen des Hollywood-Schauspielers, begegnet seinen geheimsten Gedanken. Wie es wohl im Kopf von Stanley Kubrick aussah, fragt man sich unwillkürlich in der Retrospektive, die nach ihrem Start im Frankfurter Filmmuseum nun im Berliner Gropius-Bau zu sehen ist. Im Kopf des Regisseurs, den Kollegen wie der Set-Designer Ken Adam als „Mastermind“, Mitarbeiter wie der Science- Fiction-Autor Arthur C. Clarke als „intelligentesten Menschen, der mir je begegnet ist“, bezeichnen.

Zwei Schaustücke geben die Antwort: ein Zettelkasten und das für die Ausstellung rekonstruierte Innere des Computers „HAL“ aus „2001: Odyssee im Weltraum“. Ein altmodisches Ordnungssystem und ein gigantischer Speicherraum, reguliertes Chaos und futuristische Vision. Wahrscheinlich war Kubrick das alles: Sammler, Wissenschaftler, Visionär. Und vor allem: Perfektionist. Stanley, das Meisterhirn.

Hier geht es um ein Lebenswerk, das vor allem eine Lebensmaterialsammlung ist. Kubrick war ebenso berühmt wie berüchtigt dafür, dass er sich jahrelang akribisch auf seine Filme vorbereitete, alles Material zum Thema zusammentrug. Das musste auch der Frankfurter Archivar Bernd Eichhorn erfahren, als er nach dem Tod Kubricks acht Monate auf dessen Anwesen in Südengland zubrachte, um Material für die Retrospektive zu sichten. Das Haus quoll über, selbst in Containern im Garten lagerten die Requisiten zu „2001“, und die Familie lebte inmitten der Filmüberreste: Der Tisch aus „Shining“ stand in der Küche, dazu die Stühle aus „Eyes Wide Shut“ und der Kronleuchter aus „Barry Lyndon“. „Bei uns auf dem Gut suchen wir die Heuhaufen, nicht die Stecknadeln“, sagt Kubrick-Witwe Christiane. Und scheint gleichzeitig recht erleichtert, einen Teil des Materials auf Reisen schicken zu können: nach Frankfurt, nach Berlin, demnächst nach Rom und vielleicht nach Australien.

Ein ehrgeiziges Ausstellungsprojekt – und gleichzeitig, wie die Kubrick-Witwe ergänzt, der Versuch, dem Bild des irren Eigenbrötlers, wie es vor allem die britische Boulevardpresse gezeichnet hatte, etwas Positives entgegenzusetzen. Doch angesichts des Reichtums des Kubrick’schen Filmuniversums muss eine Ausstellung zwangsläufig enttäuschen. Gewiss, es gibt schöne, zum Teil originale, zum Teil nachgebaute Requisiten wie Laurence Oliviers Kostüm aus „Spartacus“, Ken Adams Modell für den „War Room“ in „Dr. Seltsam“, die Zentrifuge aus „2001“ und das Heckenlabyrinth aus „Shining“. Alle Filme sind dokumentiert, manchmal sogar mit unveröffentlichten Fotos wie den Farbbildern, die Bert Stern von der 14-jährigen „Lolita“-Darstellerin Sue Lyon schoss, oder der Tortenschlacht, mit der „Dr. Seltsam“ hätte enden sollen.

Auch der engagierte Briefwechsel, den Kubrick mit Fans und Kritikern unterhielt, ist lesenswert: Da beklagt sich ein Mitglied der „Bible Presbyterian Church“ darüber, dass „Lolita“ auf Sex Appeal basiere: „Dieser Appeal ist völlig degeneriert. Es kann nichts Gutes daraus entstehen.“ Ein Mitglied der US-Army wehrt sich gegen die Darstellung in „Dr. Seltsam“. Ein Kunstgeschichtsprofessor entdeckt die Pop-Art-Parallelen in „Clockwork Orange“. Und man erfährt, wie geschickt Kubrick für „2001“ Product Placement einzusetzen wusste, sich die Computerausstattung von IBM, Mode, Frisuren und Make-Up von der Vogue, die Füller von Parker liefern ließ. Aber was ist ein roter Djinn-Stuhl gegen das Innere des Raumschiffs, was eine Frauenskulptur gegen die Korova Milk Bar und was eine Maske gegen die Logensitzung in „Eyes Wide Shut“?

Der Zettelkasten übrigens bereitete ein Projekt vor, das Kubrick nie verwirklichen sollte: Napoleon. „I expect to make the best movie ever made“, hatte er seinem Produzenten versichert – und Studenten durch die Antiquariate der Großstädte Europas gejagt, um Material zusammenzutragen. Einiges davon ist nun in Berlin zu sehen: ein Bücherschrank, randvoll gestopft mit Napoleon-Literatur, Teile des am Ende auf 13000 Abbildungen angewachsenen Bildarchivs, und eben jener Zettelkarteikasten, mit dem Kubrick das Leben Napoleons rekonstruierte: Wo hat er geschlafen, wann ist er aufgestanden, was hat er gefrühstückt, hat er sich gewaschen? Und: Wie war das Wetter an welchem Tag?

Die Arbeit war weit fortgeschritten, wie ein fertig ausgearbeiteter Drehplan über 234 Minuten belegt. Beginnen sollte es mit einer Szene auf Korsika, die den kleinen Napoleon mit Teddybär zeigt, Drehorte, unter anderem der Palazzo Reale in Turin, waren gefunden, Anfragen für den Cast gestellt. Oscar Werner, der als Hauptdarsteller vorgesehen war, hatte begeistert zugesagt, Audrey Hepburn hingegen ließ sich entschuldigen: Sie wolle derzeit keine Filme drehen. Doch Vanessa Redgrave und Charlotte Rampling, Richard Burton, Peter O’Toole und Belmondo waren mit von der Partie. Doch dann kommt „Waterloo“ ins Kino – und floppt. Und die Produzenten verlieren die Nerven. Kubrick zieht das Projekt zurück.

Jahrelange Vorbereitung, und dann ist es zu spät: Das ist die Tragik in Kubricks Leben. Das war so mit „Napoleon“, wo er die Vorarbeiten zumindest noch für den Folgefilm „Barry Lyndon“ nutzen kann, einschließlich der Testaufnahmen mit Kerzenlicht. Ähnlich erging es einem Lieblingsprojekt der neunziger Jahre: der Verfilmung von Louis Begleys Romanerstling „Lügen in Zeiten des Kriegs“. Auch hier künden Zettelkästen vom Stand der Vorarbeiten: ein ganzes Regal voll, geordnet nach Stichworten wie „Camps“, „Ghetto“, „Atrocities“ (Grausamkeiten), „Brno“ (die tschechische Stadt Brünn war als Drehort vorgesehen), „Clothes“ und „Uniforms“. Auch das Skript stand, die Hauptdarstellerin Johanna ter Steege war gecastet. Doch dann kam Steven Spielbergs „Schindlers Liste“ in die Kinos, und Kubrick begriff: Er war zu spät. Zu spät auch beim letzten Film: Die Premiere der Schnitzler-Verfilmung „Eyes Wide Shut“ mit Tom Cruise und Nicole Kidman erlebt Kubrick nicht mehr. Vier Monate vorher, am 7. März 1999, stirbt er nach einem Herzanfall.

Stanley Kubrick. Martin-Gropius-Bau, bis 11. April. Katalog (Filmmuseum Frankfurt) 30 Euro

Christina Tilmann

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