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Kultur: Zeugin eines Trauerspiels

Als Ernst Busch an einem Tag im Mai 1945 vor seinem Haus am Breitenbachplatz zufällig seine Frau trifft, ist Eva Kemlein auch zufällig da. Den Hund an der Leine, die Kamera stets griffbereit, hört sie Eva Busch sagen: "Busch?

Als Ernst Busch an einem Tag im Mai 1945 vor seinem Haus am Breitenbachplatz zufällig seine Frau trifft, ist Eva Kemlein auch zufällig da. Den Hund an der Leine, die Kamera stets griffbereit, hört sie Eva Busch sagen: "Busch?" Und Ernst Busch antworten: "Buschin?". Und dann gehen sie aufeinander zu, umarmen und küssen sich, und Kemlein drückt auf den Auslöser. Das Bild ist später berühmt geworden, die Fotografin zur Chronistin der Berliner Nachkriegs- und Theatergeschichte aufgestiegen. Eva Kemlein ist mittlerweilen 92 Jahre alt, aber fotografieren tut sie noch immer.

Der Versuch, die Jahrhundert-Fotografin auf einen Stil festzulegen, ist von Vorneherein zum Scheitern verurteilt. Straßenszenen aus dem Handgelenk hat sie genauso festgehalten wie sorgsam ausgeleuchte Arrangements, Theaterbilder stehen in ihrem Werk neben Porträts. Die Eindringlichkeit Kemleinscher Bilderwelten erschließt sich erst, wenn man sie mit der abenteuerlichen Biografie ihrer Schöpferin verknüpft. Als Tochter aus gutem Hause war Kemlein kein typisches Bürgermädchen: Selten tat sie, was sich geziemt hätte. "Geradezu faul" sei sie gewesen, gesteht die kleine, zierliche Frau mit dem burschikos-kurzen Haar heute, auch mal sitzengeblieben sei sie. Dennoch gelingt es ihr, 1929 eine Ausbildung zur Medizinisch-Technischen Assistentin an der Letteschule abzuschließen. Dort lernt sie den Umgang mit der Kamera. Ihren fotografischen Blick schult sie anschließend in der Gerichtsmedizin.

Dann der erste Schnitt, die erste große Liebe: Während einer Urlaubsreise nach Italien lernt sie ihren ersten Mann, den Journalisten Herbert Kemlein, kennen. "Ein ganz bunter Vogel war das", und Eva Kemlein muss sogleich schmunzeln, als sie auf sein Foto deutet. Prompt sei sie seiner ungestümen Art und Abenteuerlust verfallen und ebenso überstürzt begleitete sie ihn einige Monate später in den Süden - von Berlin bis Athen mit dem Motorrad. Er schreibt, sie fotografiert. Kurz darauf wieder ein Schnitt: Kemlein ist Jüdin, 1938 erteilen die Nazis ihr Berufsverbot. Sie kehrt nach Berlin zurück und trennt sich bald von ihrem Ehemann.

Plötzlich muss Kemlein ums nackte Überleben kämpfen und ahnt schon früh: "So wie es ist, bleibt es nicht." Drei Jahre übersteht sie mit ihrem neuen Lebensgefährten, dem Schauspieler und Autor Werner Stein, im Berliner Untergrund. Mehr als dreißig Mal müssen die Verfolgten das Quartier wechseln. Über ihre Erlebnisse in dieser Zeit spricht Kemlein nicht gern, wehrt freundlich ab. Nur so viel: Ihre Leica habe sie all die Jahre in eine Schlafdecke gewickelt stets bei sich getragen. Niemals hätte sie die Kamera zurückgelassen, an die sie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft knüpfte. Die Befreiung Berlins im Mai 1945 empfindet sie als "Wiedergeburt".

Danach dokumentiert Kemlein den Neuanfang in der kaputten Hauptstadt: geschlagene Wehrmachtssoldaten auf dem Weg in die Gefangenschaft, Gemüseanbau neben der Siegessäule, Schwarzmarkt am Zoo, Trümmerfrauen bei Straßenarbeiten und beim Dachdecken. Kemlein heuert als Bildreporterin bei der Berliner Zeitung an und wechselt 1948 zum "Illus Bilderdienst", einem Vorläufer des ADN. Im Auftrag des Bilderdienstes hält sie die Sprengung des Berliner Stadtschlosses fest.

"Das war die einzige Zeit in meinem Leben, neben der Hitlerzeit, in der ich Zwangsarbeit machen musste", sagt sie heute. Fest angestellt, strikte Arbeitszeiten, das war nicht auszuhalten für Eva Kemlein, die bis in die frühen neunziger Jahre dann nur noch als "Freie" und vorrangig für Ost-Berliner Tageszeitungen gearbeitet hat. Eine Grenzgängerin, lebenslänglich. Denn noch heute wohnt Eva Kemlein in derselben Altbauwohnung, die ihr und "ihrem Stein" nach der Befreiung in der Künstlerkolonie am Breitenbachplatz zugewiesen wurde. Gemeinsam waren sie mit den Bühnengrößen jener Jahre befreundet, wie eben mit den Buschs, die gegenüber wohnten. Ihre geliebten Theater jedoch lagen am anderen Ende der geteilten Stadt.

So ist sie zunächst mit dem Rad, dann mit ihrem Käfer und später mit einem Polo täglich über den Grenzübergang an der Invalidenstrasse gefahren. Doch weder die bürokratischen Hürden noch der weite Weg zur Arbeit konnten sie je zu einem Umzug bewegen. Nur das Foto einer Probe zu Heiner Müllers "Hamlet-Maschine" am Berliner Ensemble verweist in ihrer Wohnung auf die Profession der Frau, die hier lebt.

Seit Anfang der fünfziger Jahre hat sich Kemlein ganz der Theaterfotografie verschrieben. In Schwarz-Weiß hat sie die legendären Inszenierungen von Bertolt Brecht und Wolfgang Langhoff festgehalten. Vor allem Brecht habe sie "fasziniert". Von seinen Stücken spricht die überzeugte Sozialistin mit quasi-religiöser Begeisterung: "Die Inszenierungen hatten damals einfach ein ganz anderes Flair, eine Aura, von der man als Zuschauer heute nur noch schwärmen kann." Während sie redet, durchsucht Kemlein ihre Unterlagen nach Beweisen und zieht treffsicher einige Aufnahmen von Helene Weigel als "Mutter Courage" (1954) hervor.

Nie rückte sie ihre eigenen ästhetischen Ambitionen in den Vordergrund. Ob sie Ernst Busch, Louis Armstrong, Dario Fo, Marcel Marceau, David Oistrach, immer wieder Inge Keller, Kurt Böwe oder Robert Wilson porträtierte, stets ging es ihr darum, die Besessenheit und Perfektion dieser Künstler für die Nachwelt zu fixieren. Die Bilder zeugen von großer Intimität, einer eigentümlichen Interaktion zwischen ihr und den Bühnenstars. Ihr gesamtes Archiv, das bis 1989 etwa 30 000 Negative umfasst, hat Eva Kemlein bereits vor Jahren an die Stiftung Stadtmuseum abgegeben. Verwunderlich, dass erst jetzt eine umfangreiche Ausstellung ihres Werks in "ihrer Stadt" zu sehen ist. Dafür ist der Rummel seit der Ausstellungseröffnung um so größer. "Beinahe zu groß", wie Kemlein gesteht, die doch selbst so ungern vor der Kamera posiert. Die Hommage zeigt mit etwa 80 Vintages und Neuabzügen nur einen Bruchteil von Kemleins Werk. Und bis heute richtet sich ihr Blick auf die Berliner Theaterlandschaft. "Leider meistens nur noch als kritische Beobachterin dieses großen Trauerspiels", merkt sie nüchtern an.

Pamela Jahn

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