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Kultur: Zielstrebig ahnungslos

Von den „Ratten“ zur „Wildente“: Am Deutschen Theater ist Sven Lehmann der Schauspieler der Stunde

Gregers Werle, der Enthüllungsfanatiker aus Ibsens „Wildente“, weiß genau, wo es lang geht. Nämlich geradewegs in die Desillusionierung hinein, vorzugsweise die der Anderen: Feierlich zertrümmert er die Lebenslüge seines Jugendfreundes und hat damit am Ende des Stücks zwar Todesfälle provoziert, ist sich seiner Sache aber nach wie vor hunderzwanzigprozentig sicher.

Sven Lehmann dagegen, der den zielstrebigen jungen Mann in vier Tagen spielen wird, sitzt in der Kantine des Deutschen Theaters und hat „keine Ahnung“: „Ich stehe da, und alles ist mir komplett rätselhaft“ grinst er. Im Gegensatz zu seinem Kollegen Ingo Hülsmann, der den Jugendfreund gibt und dabei „um mich rumtobt wie ein Wahnsinniger und macht und tut“, sagt Lehmann. „Toll!“

Das Problem besteht schlicht darin, dass Sven Lehmann kein Schauspieler der zackigen Geradlinigkeit ist, sondern die Ambivalenz preist. Und die ist bekanntlich nicht nur schwerer auszuhalten, sondern auch komplizierter darzustellen. Wirkt die professionelle Ahnungslosigkeit proportional zum nahenden Premierentermin beunruhigend? „Nee, überhaupt nicht“, sagt Lehmann lakonisch. Was auch daran liegen dürfte, dass Michael Thalheimer „Die Wildente“ inszeniert. „Zu Micha habe ich so ein tiefes Grundvertrauen, dass ich mich sofort auf alles einlasse, was er macht.“ Der Erfolg gibt ihm Recht: In Thalheimers Hauptmann-Inszenierung „Die Ratten“ gelingt Lehmann als Unterschichtsgatten an der Seite von Constanze Becker einer der anrührendsten und gleichzeitig kitschfreiesten Liebestragödienmomente überhaupt, wenn er sich – nachdem seine Frau sich umgebracht hat – wie blind über die Bühne tastet.

Und Lehmanns von jeglicher diabolischer Folklore freier Mephisto im blauen Schlabberpullover, der seinen Kopf müde-versöhnlich auf der Schulter des viel größeren Berlin-Mitte-Fausts von Ingo Hülsmann ablegt, ist sowieso großartig. Im Vorfeld zu dieser Thalheimer-Inszenierung, erzählt Sven Lehmann, hätten internationale Goethe-Koryphäen das Ensemble tagelang diskursfit gemacht. „Das war wunderbar – ein Plädoyer für den klugen Schauspieler!“ Was ihn wirklich abgrundtief langweile, seien „Langsamkeit und Dummheit“, besonders in Kombination: „Das kann ich nicht aushalten, da werde ich irre!“

Tatsächlich beides keine Untugenden, die man Michael Thalheimer vorwerfen kann. Trotzdem gestaltete sich ihre erste Zusammenarbeit vor sieben Jahren bei „Emilia Galotti“ nicht undramatisch. Am Deutschen Theater sortierte sich gerade alles neu: Bernd Wilms hatte die Intendanz übernommen; Sven Lehmann war – nicht zuletzt dank Thalheimer und auf Empfehlung von Hans Neuenfels, bei dem er „Ödipus“ gespielt hatte – frisch vom Bayerischen Staatsschauspiel gekommen. Der formstrenge Thalheimer selbst wiederum konnte zwar einen Theatertreffen-Triumph vorweisen, aber weder Nina Hoss noch Regine Zimmermann oder eben Lehmann hatten bis dato mit ihm gearbeitet – und fanden Ansagen wie „Du musst einfach da stehen und den Text sagen“ entsprechend abenteuerlich. „Thalheimer und ich haben uns erst mal angeschrieen und unbotmäßig beschimpft“, berichtet Sven Lehmann von der ersten „Galotti“-Arbeitsphase. „Dann saßen wir drei Wochen auf dem Theatervorplatz, haben über Frauen, Essen, Diäten, Gewichtszunahme, Hohlkreuze, Musik und Frisuren geredet und eigentlich nur Autos ausgelassen, weil wir uns dafür beide nicht interessieren.“ Das Resultat ist bekannt: „Emilia Galotti“ mit Lehmann als Prinz wurde ein Kritiker- und Publikumshit und tourte um die halbe Welt. Und von „Du musst einfach da stehen und den Text sagen“ kann sowieso keine Rede mehr sein. Thalheimers formale Strenge, sagt Lehmann, wirke mittlerweile für ihn „weniger wie ein Korsett, sondern vielmehr wie ein Kokon, den man als Schauspieler von innen ausbeulen kann. Und die Beulen, die Micha nicht gefallen, nimmt er weg.“

Sven Lehmann ist ein wohltuend unprätentiöser und witziger Mensch, mit dem es sich gut lachen lässt. Zum Beispiel, wenn er seine Karriere Revue passieren lässt: Hätten die Kollegen vom „Armeesportklub Vorwärts Potsdam“ den 1965 im sächsischen Borna geborenen jungen Mann, der seit seinem sechsten Lebensjahr bei ihnen als Fechter trainierte, nicht kurzerhand rausgeworfen, wäre er nämlich heute möglicherweise Fechtbundestrainer oder mindestens ARD-Sportexperte. „Keine Leistungsperspektive“, befanden die Genossen jedoch eines Tages überraschend – nachdem Lehmann gerade in die DDR-Juniorennationalmannschaft aufgestiegen war. Den wahren Grund erfuhr er nach dem Mauerfall aus seiner Stasi-Akte: Er war den Sportfunktionären suspekt geworden, weil er Umgang mit Punks und Künstlern pflegte. Auch dies übrigens eher „ein Zufall“ – und anfangs sogar ein recht unromantischer: Als Teenie hatte Sven Lehmann einer angebeteten Mitschülerin seinen Walkman ausgeliehen und das edle Stück nicht nur kaputt zurückbekommen, sondern auch gleich noch die Mitschülerin verloren – an einen Beleuchter des Potsdamer Hans-Otto-Theaters. Der hieß Robert Kuchenbuch und spielt inzwischen Hauptrollen bei Armin Petras am Maxim Gorki Theater. Walkman und Mitschülerin waren schnell vergessen; dafür freundete sich Lehmann mit der künstlerreichen Kuchenbuch-Sippe an. Zwar begann er vor der Schauspielausbildung an der Ernst-Busch-Schule noch ein Studium der Archivwissenschaften und Geschichte. Aber als er 1989 in der Uni-Bibliothek plötzlich vor komplett leeren Regalen stand, weil der bis dato für Historiker verbindliche Kanon über Nacht entfernt worden war, wusste Herr Lehmann endgültig: „Hier bin ich falsch!“

Von Gregers Werle hat er natürlich immer noch „keine Ahnung“. Fest aber steht nun immerhin: „Es wird nicht länger als eine Stunde und vierzig Minuten.“ Da hält es Lehmann mit dem hoch verehrten Benno Besson, bei dessen Schillertheater-Produktion „Hase Hase“ er 1992 nicht nur drei Viertel der Proben, sondern auch sämtliche Aufführungen sah. Besson habe gewusst: „Alles über zwei Stunden ist Körperverletzung.“

„Die Wildente“, Deutsches Theater, Premiere 2.2., 19:30 Uhr

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