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Kultur: Zimmer mit Einsicht

„Von Mäusen und Menschen“: Die Berlin-Biennale präsentiert einen Parcours der Obsessionen

Die Ouvertüre täuscht: Mit einem gewaltigen Knall fallen die hölzernen Türen von Paul McCarthys „Bang-Bang-Room“, dem ersten Kunstwerk in der ehemaligen jüdischen Mädchenschule, immer wieder zu. Ähnlich laut, aber noch aggressiver präsentiert sich das Entree in den Kunst-Werken. Hier drischt in Bruce Naumans Videoinstallation „Rats and Bats“ mit dumpfen Schlägen ein Mann unaufhörlich auf einen Wäschesack ein; die von diesem Geräusch irritierten Ratten in einem gelblich gläsernen Labyrinth verlieren zunehmend die Orientierung. Doch von offensichtlicher Gewalttätigkeit ist die vierte Berlin-Biennale weit entfernt. Vielmehr pflegt sie eine kultivierte Melancholie von solcher Eindringlichkeit, ja Unentrinnbarkeit, dass sich der Besucher später fast dankbar der zugeworfenen Türen und gezielten Schläge vom Beginn erinnert.

„Von Mäusen und Menschen“ ist die für Berlin, ja bundesweit im Documenta-Vorjahr wichtigste Veranstaltung zeitgenössischer Kunst überschrieben. Sie spiegelt eine Stimmung, die nicht widersprüchlicher sein könnte zum überdrehten, euphorisierten Kunstmarktgeschehen der Gegenwart, das mit Wollust einen Preisrekord nach dem anderen bricht und zum Spielball der Superreichen geworden ist. Den Titel übernahm die Biennale von jenem John-Steinbeck-Roman, der die sozialen Niederungen beschreibt, in denen Mensch und Tier nicht mehr viel voneinander trennt. Das Kuratorentrio Maurizio Cattelan, Massimiliano Gioni und Ali Subotnick verabreicht dem Kunstpublikum mit seiner Biennale statt Spaß eine Lektion in Traurigkeit und hat es auf Diät gesetzt: Die Teilnehmerzahl wurde auf siebzig eingeschränkt, der Schauplatz auf Ausstellungsorte entlang der Auguststraße konzentriert.

Beim letzten Mal war es der feudale Showroom des Martin-Gropius-Baus; diesmal entschied man sich für die morbide jüdische Mädchenschule gleich vis-à-vis der Kunst-Werke. Mit diesem seit zehn Jahren erstmals wieder zugänglichen Ort ist ein starker Mitspieler hinzugekommen, der die imaginierte Reise zu den verborgenen Gestaden der menschlichen Psyche zur konkreten Erfahrung werden lässt. Gelebte Geschichte lauert in allen Ritzen, hinter den abblätternden Tapeten und den Schriftzügen an der Wand, die noch aus vergangenen Unterrichtstagen stammen, und vereint sich mit den sinistren Kunstwerken zu einem fast dröhnenden Chor verdrängter Stimmen. Doch Cattelan & Co. sind kluge Dirigenten. Sie dosieren sparsam, geben nicht alle Klassenzimmer und Abstellkammern für Kunstwerke frei, sondern entwickeln Geschoss für Geschoss ein Panorama paranoischer Positionen, so dass sich der Besucher am Ende selbst wie eine Figur in einer dieser aberwitzigen Videoinstallationen vorkommt.

Deutlicher hätte der Gegenentwurf zur letzten Biennale 2004 kaum ausfallen können, die wegen Verkopftheit und Theorielastigkeit schnell in die Kritik geraten war. Roger M. Buergel, künstlerischer Leiter der Documenta 11, hatte die Kursänderung bereits vor zwei Jahren vorgegeben: weniger Text, mehr Kunsterfahrung, Schönheit statt Sprödigkeit. Das Berliner Kuratorentrio präsentiert nun seine Lesart dieser neuen Sinnlichkeit. Sämtliche Werke zeichnen sich durch Fragilität und Flüchtigkeit aus, die den alltäglichen Wahnsinn durchscheinen lassen. Die zarten Zeichnungen von Christiana Soulou zeigen Gerippe, Frauenhände, die nach Blumen greifen. Dorota Jurczaks Radierungen, in denen es vor Vögeln und Spinnen nur so wimmelt, lassen schaudern. Die Schreibmaschinen-Poeme des autistischen Dichters Christopher Knowles verschließen sich vollends in ihre eigene Welt. Verstörung lösen auch die Fotografien von Francesca Woodman aus, die zunehmend aus ihren eigenen Bildern verschwand und 1981 mit 23 Jahren Selbstmord beging.

Dort, wo künstlerische Positionen ausnahmsweise doch zupackend-politisch erscheinen, verbirgt sich am Ende eine individuelle Mythologie. Die in Lehm getauchten Flaggen des Bulgaren Pravdoliub Ivanov könnten für den befürchteten Verlust nationaler Identitäten im Ostblock stehen. Doch mehr noch sind sie ein Requiem für die vielen Toten in den Massengräbern, ein Bild der persönlichen Trauer, wie es auch im Werk des jungen Georgiers Andro Wekua in der St. Johannes-Evangelist-Kirche aufscheint, der den Verlust des Vaters und die Flucht in den Westen verarbeitet.

Es verwundert kaum, dass die Kuratoren bei ihrer Suche nach dem Schicksalhaften, dem existenziellen Erleben auf besonders viele Künstler aus dem Ostblock stießen. Diese haben ganz anders die Härten des Lebens erfahren und übernehmen die Gleichsetzung von Menschen und Mäusen häufig geradezu wortgetreu. Das von dem Albaner Anri Sala am Rande einer Autobahn gefilmte, regelrecht paralysierte Pferd ist ein Beispiel dafür, ebenso die leibhaftige Gegenüberstellung eines Wolfs mit einem Reh mitten in einer Galerie, die der junge Rumäne Mircea Cantor präsentiert. Menschen mit Hang zur Depressivität werden in Berlin zur Zeit bestens versorgt, kunsthistorisch in der „Melancholie“-Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie, mit Gegenwartskunst auf der Biennale. Das Kuratorentrio hat sich am Ende sogar selbst affiziert und schreibt in seinem Katalogessay: „Es ist an der Zeit, den Rückzug anzutreten und sich im Inneren zu verstecken.“

Die Inszenierung der Biennale selbst spricht eine andere Sprache, sie öffnet sich buchstäblich nach draußen. Türen werden aufgeschlossen, Menschen hereingebeten. Neben der Schule, den Kunst-Werken, der Kirche und den Pferdeställen des Postfuhramts haben etliche Bewohner ihre Wohnung der Biennale als Präsentationsort überlassen. Mit der vierten Berlin-Biennale erlebt ein ungewöhnliches Ausstellungsformat seine Wiedererweckung, das von Jan Hoet in den Achtzigern mit „Chambre d’ami“ in Gent erfunden wurde und Anfang der Neunziger mit „37 Räumen“ schon einmal in der Auguststraße seine Anwendung fand. Diese Wiederholung am gleichen Ort hat man dem Kuratorentrio zunächst übel genommen, die Debatten um die Gentrifizierung der Spandauer Vorstadt sind längst geführt.

Doch mit der Konzentration auf eine Straße, zufällig ist es wieder gerade diese, gelingt der Biennale ein Sinnbild für das Leben schlechthin, die Zufälle des Schicksals, das Nebeneinander. Wie schon in der jüdischen Mädchenschule werden die Orte selbst zum Akteur: die asketische Wohnung des Malers Norbert Schwontkowski mit seinen Bildern an der Wand, das Wohnzimmer im Brecht-Styling eines DDR-Intellektuellen-Paars, wo Tisch und Stuhl plötzlich zu vibrieren beginnen (Damián Ortega), oder das schicke Apartment im Gründerzeit-Haus mit neo-konstruktivistischen Werken von Sergej Jensen. Das Private wird unversehens öffentlich, das Öffentliche privat.

Mit der vierten Berlin-Biennale präsentiert sich die aktuelle Kunst weder als Spaßveranstaltung noch als Denksportaufgabe oder Diskussionsvorlage, sondern als melancholische Metapher. Bonjour Tristesse? Nicht nur: Im Hof der Kunst-Werke erschallt aus einem Lautsprecher – Gelächter.

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