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Roll over. Die französische Kompagnie MPTA zeigt ihre zeitgenössische Zirkusproduktion „Somnium“. Das Requisit ist ein Metallreifen, Roue Cyr genannt.

© Christophe Raynaud de Lage/HdBF

Zirkusfestival im Haus der Berliner Festspiele: Tricks aus dem Nichts

Eine große Künstlerschar experimentiert eine Woche lang zum Thema Zirkus. Die Berliner Festspiele zeigen die Ergebnisse bei der „Originale“.

Montagabend im Haus der Berliner Festspiele. Am Haupteingang rütteln hilft nicht, hinein geht es nur durch den Bühneneingang. Essensdüfte und Elektromusik wabern durch das Foyer. An einer langen Tafel im ersten Stock sitzt ein vielsprachiger Trupp beim Abendmahl. Trainingsanzüge, Jeans, Hi hier und Hallo da, beim Hochkultur-Ostercamp des fahrenden Volks geht es lässig und freundschaftlich zu.

Seit Gründonnerstag arbeiten 40 Künstlerinnen und Künstler aus 17 Ländern in acht, vom Radialsystem bis zur Ufa-Fabrik über Berlin verteilten Workshops zum zeitgenössischen Zirkus. Die eine Hälfte der aus 500 Bewerbern ausgewählten Schar von Profis sind Artisten, die andere Tänzer, Musikerinnen, Schauspieler, bildende Künstlerinnen. Ihr Thema ist der von der  Zirkusmanege inspirierte „Kreis“. Am kommenden Samstag und Sonntag sind die in diesen sogenannten Research-Labs entstandenen 20-Minuten-Darbietungen beim Festival „Originale“ auf einer kreisrunden Bühne im Haus der Berliner Festspiele zu sehen. Und zwar flankiert von den Shows „Somnium“ der französischen Kompagnie MPTA und „Mobile“ des deutschen Jongleurs Jörg Müller, Künstlergesprächen, Konzerten und einer Ausstellung des Zirkusfotografen Lukas Berger.

Seit einem Jahr läuft sie nun, die mit distinguiertem „C“ geschriebene Zirkus-Schiene der Berliner Festspiele, dem ersten Theaterhaus Berlins, das Artisten in seine heiligen Hallen aufnimmt. Intendant Thomas Oberender plädiert für eine öffentliche Förderung, die sich das Nachbarland Frankreich beispielsweise 14 Millionen Euro jährlich kosten lässt, und dafür, dass sich deutsche Stadttheater für die Zirkuskunst öffnen. Er schätze die Risikobereitschaft und Experimentierfreude des zeitgenössischen Zirkus, schreibt er in einem Essay, genauer die „andersartige Erzählweise, die nicht textbasiert“ sei und eine Form von Realität kreiere, die nicht dem „Gebot der Repräsentation“ gehorche, sondern „der Andersartigkeit, des Magischen und Riskanten“.

Meret Becker hegt auch romantische Gefühle für den traditionellen Zirkus

Das könnte gewiss auch die Frau unterschreiben, die jetzt im rotschwarzen Ringelpulli mit einem Feierabendbier in der Hand um die Ecke kommt. Meret Becker, Schauspielerin, Sängerin und ein in Variete- wie Gesangsprogrammen erprobtes ewiges Zirkuskind, ist eine Lab-Leiterin der „Originale“, zu denen Theaterleute wie Julia Wissert und die Susanne-Kennedy-Mitstreiterinnen Suzan Boogaerdt und Bianca van der Schoot gehören, aber auch Zirkusmacher wie Rostislav Novák, der Gründer des tschechischen Cirk La Putyka. Becker ist ungeschminkt und ganz und gar erfüllt von der Arbeit mit dem von ihr ausgewählten Team aus Cellist, Schauspielerin, Tänzerin und zwei Artisten, die den Chinesischen Mast, das Vertikalseil und Jonglage beherrschen. Dass sie als Enkelin der Varietékomödiantin Claire Schlichting auch romantische Gefühle für den traditionellen Zirkus hegt, dessen Klischees die Anhänger des zeitgenössischen, interdisziplinären, in den Ausbildungswegen seit den neunziger Jahren deutlich akademisierten Zirkus mit „C“ bekämpfen, verhehlt sie nicht.

Also, ich stelle mir das so vor. Leiterin Meret Becker im Workshop.
Also, ich stelle mir das so vor. Leiterin Meret Becker im Workshop.

© Hugo Estrela/HdBF

In ihren Augen hat die künstlerische Erneuerung der Unterhaltungsform viel früher als mit dem „neuen Zirkus“ der siebziger Jahre begonnen und andere Sparten beeinflusst. „Der Slapstick eines Buster Keaton ist nichts anderes als anarchische Zirkuskunst“, sagt Becker. Dasselbe gelte auch für Herbert Fritschs Theater. Dessen Gaga-Groteske „Murmel Murmel“ hat sie gleich fünfmal gesehen. Sie selber arbeitet seit zehn Jahren an einem Zirkus-Musiktheaterstück. So eine Mischform in Deutschland zu realisieren, sei bisher illusorisch gewesen, erzählt sie. „Doch jetzt gehen auch hier Türen auf.“

Nicht zuletzt durch das Zeichen, dass das Haus der Berliner Festspiele in Gestalt von Johannes Hilliger und Josa Kölbel setzt. Die Kuratoren der bisher aus drei Gastspielen und der als jährlicher Thinktank geplanten „Originale“ bestehenden Zirkus-Schiene veranstalten außerdem das Berlin Circus Festival auf dem Tempelhofer Feld. Am 24. August startet die vierte Ausgabe dieses europaweit ausstrahlenden Treffs.

Die Physis ist das Mittel des Zirkus

Deren Credo ist nicht Hochleistungssport, nicht das Höher, Schneller, Weiter, sondern der künstlerische Act, der Elemente anderer darstellender Künste einschließt und wie der im März 2017 zum Auftakt gezeigte Fünfzigminüter „Nebula“ Akrobatik am chinesischen Mast mit Visual Arts und Tanz kombiniert. Dem Verdacht, dem vom Bestaunen menschlicher Glanzleistungen lebenden Zirkus zu Performance-Larifari herunterkochen zu wollen, begegnet Kölbel mit dem Satz: „Das Mittel des Zirkus ist die Physis.“ Und ohne körperliche Virtuosität ist da auch in der Dekonstruktion der von Trommelwirbel, Musikpause und Erfolgs-Tusch geprägten klassischen Zirkusdramaturgie auf abendfüllende Länge keine Spannung erzielen.

Klingklong. Jörg Müller arbeitet in seiner Jonglage "Mobile" mit Metallstäben und schlägt sie auch an.
Klingklong. Jörg Müller arbeitet in seiner Jonglage "Mobile" mit Metallstäben und schlägt sie auch an.

© Ian Winters/HdBF

Wobei das mit der durch hartes Training und einen disziplinierten Lebenswandel erkauften Virtuosität im Zirkus gar nicht immer so weit her ist, wie sich am Dienstagmorgen in einem Kreuzberger Hinterhof-Loft herausstellt. Hier stehen fünf barfüßige Leute im Kreis und machen sich warm, indem sie einen langen Holzstab auf der Hand balancieren. Später erhöht sich die Schwierigkeitsstufe. Einer hält mit geschlossenen Augen den Stab, eine zweite Person steht dahinter, umfasst Arm und Hand des Trägers und balanciert das gefährlich wackelnde Holz. Spektakulär? Nö. So eine interdisziplinäre Experimentiereinheit beim modernen Zirkus sieht aus wie eine Capoeira-Gruppe beim Stocktanz-Training. Und doch gehört der Akrobat, der die Truppe anleitet, zur A-Liga der europäischen Jongleure. Darragh McLoughlin ist ein in Berlin lebender Ire, der zusammen mit Elena Kreusch seit 2012 die Kompagnie Squarehead Productions betreibt. Kreusch ist 29, besitzt einen Abschluss in Artistik, einen in zeitgenössischem Tanz und schreibt in Wien gerade an einer Promotion über eben solchen Zirkus. Eine in Theorie und Praxis gleichermaßen bewanderte Künstlerin wie sie ist gewissermaßen das Gegenmodell zum einer Akrobatendynastie entsprungenen Trapezfänger alter Schule.

Der Trick ist das zentrale Element

Kreuschs und Loughlins Truppe hat sich für die „Originale“ das zentrale Zirkus-Element vorgenommen: den Trick. Was ist ein Trick, welche Mechanismen liegen seiner Inszenierung zugrunde, wie lässt sich die auseinandernehmen? Aus solchen Fragen erwächst ihre Darbietung. Wo es im Selbstverständnis des traditionellen Artisten einzig um das strahlende Gelingen geht, schließen die neuen Zirkuskünstler auch Zerbrechlichkeit und Scheitern in ihre Performances ein. „Eins unserer Hauptthemen ist es, uns gegen das romantische Zirkus-Bild des Publikums zu wehren“, sagt Elena Kreusch und leistet dazu gleich einen praktischen Beitrag, indem sie erläutert, dass ein Großteil der atemstockenden Kraft einer Zirkusnummer in der inszenierten Täuschung liegt. Ihr Beispiel ist ein Klassiker am Vertikalseil, der in jeder Show vorkommt. Der Akrobat klettert das Seil hoch, schlingt es sich um den Körper und saust in einem Rutsch hinunter, um erst kurz vor dem Boden zu stoppen. Eine riskant wirkende, aber todsichere Darbietung, weiß Kreusch, die Ohs und Ahs beim Publikum auslöst. Ihre Desillusionierung lautet: „Das bringe ich Ihnen in einem Tag bei!“ So eine Aussage stark zu bezweifeln, heißt ein gewöhnlicher Mensch und keine Artistin zu sein.

Haus der Berliner Festspiele, Samstag 7. und Sonntag 8. April, 14 – 24 Uhr, Tagespass: 25 Euro, ermäßig 20 Euro, Infos: www.berlinerfestspiele.de

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