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Kultur: Zu wahr, um schön zu sein

1001 Albtraum: Hans Neuenfels vervielfältigt Beethovens „Fidelio“ in Hamburg

„Nichts, mein Florestan!“, so umschreibt Leonore mit der Stimme Elisabeth Trissenaars ihre Tat, die zugleich übermenschlich und absurd ist. Als Mann verkleidet, hat sie sich in das Staatsgefängnis bei Sevilla eingeschlichen, um die Tat zu tun: den im tiefsten Verlies eingekerkerten Gatten vor dem Tod zu retten. Nachdem dies auf wunderbare Weise gelungen ist, mit dem Trompetensignal vom Turm als höchste Kraft einer Utopie, sagt die Retterin, die in großer Gefahr alles für ihre Liebe getan hat: „Nichts!“ Und sie fügt hinzu: „Meine Seele war mit dir ...“ Die Stimme der Schauspielerin, die vom Tonband kommt und der Sängerin auf der Bühne geborgt wird, klingt klar und innig und erstaunlich jung wie eine kunstlose Kunst. Dass Trissenaar solcher Sprechlyrik mächtig ist, vergisst sich oft über ihren darstellerischen Exaltationen im Theater.

Die Schlüsselszene sagt viel über die „Fidelio“-Inszenierung von Hans Neuenfels in Hamburg, die seit längerem wieder einmal großer Neuenfels ist: Zunächst, dass der Regisseur mit dem gebeutelten Sonnleithner-/ Treitschke-Text keine Schwierigkeiten hat, weil er das Libretto ernst und beim Wort nimmt. Der Dialog, den andere weglassen oder verwandeln, ist ihm nicht peinlich. In der „Dialogfassung von Hans Neuenfels“ wird eine Traumsphäre beschworen: „Die Nacht ist schwül, die Hunde bellen“, um zu erfassen, was sich der Erklärung verschließt. Für Marzelline, die naive Tochter des Kerkermeisters Rocco, hat sich die Welt „verändert“. Damit ist der Erzähler (Sven Lehmann) beim Original, das fortan dominiert.

Rocco verspricht Leonore/Fidelio, sie zu seinem Schwiegersohn (ursprünglich: „Tochtermann“) zu machen, nachdem man aus dem „Wunderbar“ des Quartetts in die Handlung zurückgekehrt ist. Die singenden und spielenden Akteure tragen ihre Sprechstimmen gleichsam in sich. Trissenaar räsoniert anstelle von Susan Anthony über die „Vereinigung zweier gleichgestimmter Herzen“, und Don Pizarro, der furchtbare Gouverneur, spricht mit aggressiv verfremdetem Ton und rollendem R in einer Sprache, die der heutige Hörer faschistischer deutscher Vergangenheit zuordnet, von fern und doch erschreckend bedrohlich (Ingo Hülsmann). So fließt der Sprechtext in die Musik, während die Partitur ihm Halt gibt wie er ihr.

Folteropfer sterben

Es waren zwei Widerstandskämpfer, die hatten einander sehr lieb. So erzählt Neuenfels mit jungen Doubles, wie Leonore und Florestan ihre politische und erotische Leidenschaft gelebt haben. Diese Vorgeschichte dringt erinnernd in die Geschichte ein, obwohl die Flamme von damals erloschen und aus dem drahtigen Revolutionär ein Wrack geworden ist. Mit desorientierter Motorik zappelt er im Rollstuhl, und Leonore versteht ihr Herz selber nicht mehr.

Beethoven, ein unangefochtener Lieblingskomponist des Publikums, bleibt Geheimnisträger, auch wo das typische Neuenfels-Panoptikum mit unzähligen stummen Figuren aufbricht. In imaginären Räumen mit gleißenden Rastermustern (Bühne und Kostüme: Reinhard von der Thannen) treten sie auf: der Priester, der unzüchtige Lust austreibt; der Greis an Krücken; die Folteropfer, die während Pizarros Rachearie sterben; Diener, die eine Weihnachtsbescherung im Lametta-Überfluss liefern, während die Geschenkpakete Haare und Totenschädel freigeben. In dieser Szene verweigert Rocco, sich zum Mord bestechen zu lassen.

Wenn ein Tischlein-deck-dich in den Kerker geschoben wird, mit Lobster und weißen Servietten darauf, während Leonore ein hartes Stückchen Brot erwähnt, mag der Beethovenfreund sich veralbert fühlen. Wendet er sich aber nicht ab, so wird er in der Satire tiefere Bedeutung spüren und einen Schauer, weil das Wunschbild utopischer Erinnerung so unheimlich ist.

Der Dirigent Ingo Metzmacher hält nicht durch, was seine holzschnittartige, herbe Ouvertüre beredt versprechen will. Es gibt noch Nervositäten der Philharmoniker und Koordinationsschwächen zwischen dem Orchester und dem Chor der Hamburgischen Staatsoper. Hubert Delamboye hat als Florestan eine mitreißende Tenorschärfe, indes Susan Anthonys Leonore sich mit hellem Timbre in der Partie steigert. Jan Buchwald, den die Regie als unfreien Minister zeigt, füllt edel seine Sentenzen. Musikalisch ist Falk Struckmann als Pizarro kein Triumphator mehr, aber seine Musik quillt über von szenischer Aktion. Hans-Peter König gestaltet einen Rocco, der Mitleid kennt und erweckt.

Der Gefangenenchor trägt Kostüme und Kleider aus aller Herren Länder: Die Sympathie der Interpreten scheint bei den Muslimen zu liegen, denn Christen und Juden sind in der Minderzahl. Alle führen lebensgroße flache Figuren mit sich, wie ausgeschnitten aus Bilderbögen: schwangere oder tanzende Frauen, Babys. Es sind ihre Angehörigen im individuellen Gedächtnis. Keiner weiß, ob sie außerhalb der Mauern noch leben oder tot sind. Das Bild hat eine schmerzhafte Anziehungskraft. Wie ein Schutzmantel umhüllt die Texttreue das inszenatorische Abenteuer mit seinen Rätseln und Entdeckungen.

Weitere Vorstellungen am 9., 13., 17., 21. und 26. April sowie 4. und 6. Mai.

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