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Kultur: Zürcher Gemetzeltes

Skandal zum Saisonbeginn: Die Schweizer Finanzmetropole vertreibt ihren Theaterdirektor Christoph Marthaler

Von Simone Meier

Ein Paukenschlag, ein dramatischer Höhepunkt am Ende der Theaterferien. Der Vorgang erschüttert die deutschsprachige Theaterwelt – weit über Schweizer Grenzen hinaus. Zürich hat seinem Theaterchef, dem Schweizer Christoph Marthaler, gekündigt. Unter skandalösen Umständen: Vergangenen Samstag beschloss der Verwaltungsrat des Schauspiels Zürich den Rauswurf, und weil Marthaler nicht zu erreichen war, gab man die Meldung an die Presse. Co-Direktorin Stefanie Carp erfuhr es von einem Journalisten, der sie um Stellungnahme bat. Zwei Tage zuvor war Marthalers Schauspielhaus von einer grösstenteils deutschen Kritikerrunde in der Zeitschrift „Theater heute“ zum „Theater des Jahres“ gewählt worden, einmal mehr und als erstes Theater der Schweiz zum zweiten Mal hintereinander; Marthaler zählt zu den ganz Großen seiner Branche.

Schon da hätte man sich wohl besser mit Vorsicht gewappnet, sich besser nicht zu laut und zu öffentlich gefreut. Denn nichts ist konservativen Helvetiern suspekter als zu viel ausländische Anerkennung. „Das Zürcher Schauspielhaus trennt sich auf Ende der Saison 2002/03 von seinem künstlerischen Direktor Christoph Marthaler. Dies teilte der Verwaltungsrat mit“, hieß es lapidar. Eine so „eigenwillige“ Leitung garantiere zu wenig Publikum. Die Zahl der Zuschauer und Abonnenten, so die Begründung, sei in den zwei Marthaler-Jahren von jährlich 170 000 auf 120 000 durchschnittlich zurückgegangen. Zürichs neuer Stadtpräsident Elmer Ledergeber meinte doppelzüngig, die Kündigung Marthalers sei seit längerem zu befürchten gewesen. Die künstlerische Leitung des Schauspielhauses habe „elementare Rahmenbedungungen“ missachtet und sei zum Scheitern verurteilt gewesen. Der – außergewöhnlich kurzfristige – Rauswurf Marthalers ist eine der ersten Amtshandlungen des neuen Bürgermeisters Ledergeber.

Wer jetzt in Zürich denken kann, ist niedergeschmettert. Es ist deshalb so unfassbar, weil diejenige Instanz auf Marthalers Seite steht, die in der Schweiz laut Verfassung schliesslich die grösste Entscheidungsmacht hat: das Volk. Am 2. Juni entschieden 53,5 Prozent der Zürcher Stimmberechtigten, die zur Urne gingen, dass sich die Stadt an einer Kostenüberschreitung beteiligen sollte, die vor Marthalers Zeit beim Bau seines neuen Theaters, des Schiffbaus, entstanden war. 52,9 Prozent hießen eine Erhöhung der Jahressubventionen für das Schauspielhaus gut. Kein Wahnsinnsentscheid, aber in der Schweiz galt eine Mehrheit bisher als Mehrheit.

Damals, am ersten Junisonntag, feierte Zürich sein Theater, bei der Pressekonferenz für die Saison 2002/03 war das Theater mit Plakaten geschmückt, auf denen „Danke, Zürich!“ stand. Alle heulten damals aus Erleichterung und Freude, die Theaterleute, die monatelang Publikumsaktionen gemacht hatten, die Presseleute, die sich die Finger wundgetippt hatten. Zürich war damals eine Stadt, in der man leben konnte. Der Entscheid des Verwaltungsrats ist ein Schlag ins Gesicht der Demokratie, mit keinen Haushaltsbudgets zu rechtfertigen. Man rechnet normalerweise mit zwei bis drei Spielzeiten, um ein neues Theater in einer Stadt zu etablieren, ob sie nun Hamburg, Berlin, Hannover oder Zürich heißt. Doch in Zürich ist diese Entwicklung nun brutal abgewürgt worden. Im soeben erschienenen Jahrbuch 2002 von „Theater heute“ schildert die streitbare Stefanie Carp unter dem Motto „Kein Theater ohne Chaos“ die Zürcher Situation als durchaus bedrohlich und in der Tendenz kunstfeindlich : „Es gibt keine wirkliche Kulturpolitik, weil Wirtschaft die eigentliche Stelle von Politik vertritt. Das einzige Kriterium, nach dem die Verwaltungsräte das Theater beurteilen, ist seine Wirtschaftlichkeit. Gleichzeitig halten sie sich in künstlerischen Fragen nicht etwa zurück, sondern mischen sich – eben mit dem Hinweis auf Wirtschaftlichkeit – in alles ein.“

In einer ersten aktuellen Stellungnahme wies Stefanie Carp am Sonntag noch einmal auf den wahren wirtschaftlichen Hintergrund hin: „Ich glaube, dass das Schauspielhaus viel verschuldeter ist, als gesagt wird. Und diese Verschuldung ist nicht durch die Abonnentenkündigungen entstanden, sondern hat mit dem Schiffbau zu tun. Wir sind das Opfer von Fehlentscheidungen, die früher gefällt wurden“. Marthaler selbst hat zu den Vorgängen noch nicht Stellung genommen.

Der Verwaltungsrat will nun eine Findungskommission einsetzen, die sich „unverzüglich“ auf die Suche nach einem Nachfolger macht. Das Programm der in Kürze beginnenden Spielzeit 2002/03 soll wie geplant ablaufen. Und es verspricht mit insgesamt vierzehn Premieren, einem jungen Ensemble und erstrangigen Regisseuren wieder eine starke Spielzeit zu werden – mit einem neuen Stück von Elfriede Jelinek („In den Alpen“), das Marthaler selbst in Koproduktion mit den Münchner Kammerspielen zur Uraufführung bringt; mit „Richard III“ in der Regie von Stefan Pucher; mit „Trauer muss Elektra tragen“ von Eugene O’Neill in der Regie von Frank Castorf von der Berliner Volksbühne, wo Marthaler einst zum Kultregisseur avancierte; mit einem neuen Tanztheaterstück von Meg Stuart, deren „Alibi“ auch bei Gastspielen in Berlin begeisterte.

Was mit Marthaler und seinen Leuten Zürich verlässt, ist nichts weniger als das intellektuelle Leben. Aber vielleicht will Zürich kein intellektuelles Leben mehr und auch keine grundsätzliche Debatte darüber, wo sich das Theater einmischen sollte und wo nicht und seien es nur die sicher verschanzten Schrebergärtchen verschiedener lokaler Kulturreservate, die sich plötzlich in ihrer ideologischen Abgezirkeltheit herausgefordert sahen. Schon einmal, Ende der sechziger Jahre, erlangte das Zürcher Schauspielhaus traurige Berühmtheit, als Peter Stein und seine jungen Schauspieler aus der Stadt vertrieben wurden. Nun erlebt man wieder einen selbstverschuldeten Rückfall ins zutiefst Provinzielle.

Im Programmbuch zur kommenden Saison haben Marthaler & Co. erklärt: „Ein Thema wird Projekt der ganzen Spielzeit sein – die neue Armut. Jeder 11. Schweizer lebt unter dem Existenzminimum. Diese Armut als massive Verarmung des Mittelstands wird nie öffentlich, sie kommt in der Politik kaum vor.“ Angekündigt wurden Maßnahmen gegen die „exorbitanten Eintrittspreise“ des Zürcher Schauspielhauses, zu Gunsten von Zuschauern, die sich einen Theaterbesuch nicht mehr leisten können.

Mit solchen Provokationen soll es nun ein Ende haben. Der Verwaltungsrat will Ruhe und Ordnung schaffen. Fragt sich nur, welche Theaterleute sich dafür kurzfristig hergeben und bereit sind, in diesem Klima an die Stelle von Marthaler zu treten.

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