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Zukunftsroman: Man muss verteidigen, was man liebt

Auch 2030 gibt es noch richtige Winter: Jochen Schimmangs Berlin-Zukunftsroman „Neue Mitte“.

Die nächste Diktatur auf deutschem Boden wird neun Jahre dauern, keine zwölf. Es werden Oppositionelle verfolgt und eingesperrt werden, der letzte frei gewählte Kanzler wird von den im Jahr 2016 putschenden Generälen sogar erschossen werden. Aber verglichen mit den Schrecken der Nazizeit wird diese Diktatur nur wie ein müder Aufguss wirken. Eine zeitgenössische Historikerin wird im Rückblick diese Militärdiktatur mit einem Hegel-Wort so charakterisieren: Sie sei nur noch die Farce gewesen, nicht mehr die große Tragödie.

Zu Beginn von Jochen Schimmangs aufregendem Zukunftsroman „Neue Mitte“ ist die „graugrüne“ Schreckenszeit schon wieder Geschichte. Zumindest scheint es so. Im Jahr 2030 liegt die zweite Stunde null bereits vier Jahre zurück. Wieder mussten sich die Deutschen von der Weltgemeinschaft befreien lassen. In den Trümmern der Hauptstadt versuchen verängstigte Menschen, sich einer wieder offenen Zukunft zu stellen. In Berlins Mitte, auf dem Gelände des einstigen Regierungsviertels, ist man schon weiter. Dort, in einem noch herrschaftsfreien Raum, hat sich in Schimmangs Fiktion eine zukunftsfrohe Avantgarde angesiedelt und ergreift die „Chance des noch nicht Festgelegten“.

Es sind die Kreativberufe von heute, die in den Resten der ehemaligen Junta-Prachtbauten ihre Start-ups gründen, IT-Freelancer, die Digitale Boheme. Daneben gibt es altmodische, aber nun wieder gefragte Berufsvertreter wie einen Geigenbauer oder eine Knopfmacherin. Ein Kino eröffnet, das erste nach dem großen Kinosterben. Auch eine Zeitungsredaktion siedelt sich hier an – unter den jungen Leuten kommt das Zeitunglesen, ganz altmodisch auf Papier im Café wieder groß in Mode. Für Verpflegung sorgt ein Haufen Anarchisten, die ihre Kropotkin’schen Ideale gegenseitiger Hilfe verwirklichen können.

Man sieht: Schimmangs Zukunft ist anders. Sein Roman zeigt eine klassische Utopie, ein vergängliches Nirgendwo – und zugleich eine durch und durch Schimmang’sche Wunschfantasie. In der die Lieblingsmetapher dieses Autors, die Lücke, in der allein das Glück zu finden sei, Wirklichkeit wird. Im Roman lässt er darüber den Geländegärtner mit dem sprechenden Namen Ritz philosophieren: „Die Zeiten nach so genannten Zusammenbrüchen bieten ja oft einen neuen Boden für Pflanzen, die bis dahin nur im Verborgenen geblüht haben oder als ausgestorben galten. Das gilt zwar nur für bestimmte Milieus – wie unseres – und nur für eine bestimmte Zeit, bis alles sich wieder normalisiert hat, aber diese Zeit und diesen Boden muss man nutzen.“

Man könnte diesem Science-Fiction-Roman vorwerfen, Problemfelder auszusparen, von denen wir heute glauben, dass sie die Zukunft prägen werden: den demografischen Wandel, „Multikultiprobleme“. Tatsächlich ist Schimmang viel zu klug, um in die Falle vieler Sci-Fi-Romane zu tappen und das Heute einfach linear weiterzuspinnen wie jüngst Gary Shteyngart in „Super Sad True Love Story“. Schimmangs Utopie ist bewusst rückwärtsgewandt, seine Geländebewohner sind ehemalige Widerständler oder innere Emigranten. Wie der Ich-Erzähler, der die graugrünen Jahre im ruhigen Rheinland verbrachte. Sie sind eigenbrötlerische Nostalgiker und Nischenbewohner – besser gesagt: Archivare, Vertreter jenes Typus, zu dem nach Schimmang auch der Dichter zählt. So wie sich die Figuren wundern, dass es auch im Jahr 2030 noch richtige Winter gibt, so bizarr mutet es an, wenn plötzlich doch ein klassisches Genreelement auftaucht wie die „Snow Spiders“, Spinnenroboter. Bezeichnenderweise wurden diese Waffensysteme von den Anarchisten zum Schneeräumen umfunktioniert.

Schimmangs Protagonist mit dem literaturträchtigen Namen Ulrich Anders kommt auf das Gelände, um einem Freund zu helfen, eine Bibliothek aufzubauen. Ein Mann ohne Eigenschaften ist dieser Ulrich aber nicht. Er gleicht eher einem schüchternen Parzifal, der zwar nah dabei ist, das Entscheidende aber verpasst – und damit ganz zufrieden ist.

Schimmangs anspielungsreicher Roman ist ein sympathisches Beispiel postmoderner Literaturliteratur. Unter den für die neue Bibliothek gespendeten Büchern finden sich Titel wie „Kafka als Hausgenosse“ von Franz Odradek oder „Das Sonja-Komplott“ eines gewissen Gregor Korff, den Schimmang-Leser als Hauptfigur des Romans „Das Beste, was wir hatten“ kennen. Dazu passt, dass Anders am Ende erfährt, dass Korff in Wahrheit sein Vater war. So wie die eine Figur die nächste zeugt, zeugt hier Literatur Literatur. Auf die 2009 gefeierte Rückschau auf das glückliche Provisorium Bundesrepublik folgt eine in einem ähnlich wunderbar schwebend elegischen Ton geschriebene Vorausschau auf eine neue Enklave. Die aber gefährdet ist, wie Ulrichs toughe Geliebte, die Programmiererin Eleanor, betont: „Man muss das alles natürlich notfalls auch verteidigen können. Man muss verteidigen, was man liebt.“

Doch sind die Geländebewohner viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um drohende Gefahren zu bemerken. Leben und leben lassen, scheint ihr Motto zu sein. Womöglich ist das eine Kritik des Autors an einer angesichts unserer eigenen gefährdeten Gegenwart erstaunlich sorglosen „Generation iPhone“. Bald zeigen sich Risse im Idyll. Eine Kinderbande wird verhaftet, ein Eifersuchtsdrama eskaliert, vor allem tauchen wieder graugrün Uniformierte auf, die die Macht zurückerobern wollen. Ihr Brandanschlag zur Eröffnungsfeier der neuen Bibliothek scheitert allerdings kläglich. Der kluge Bibliothekar hat die Buchrücken imprägnieren lassen. Das dürfte mehr bedeuten als nur die denkbar schönste Kontrafaktur auf das ehrwürdige Motiv des Bibliotheksbrandes.

Jochen Schimmang: Neue Mitte.

Roman. Edition Nautilus, Hamburg 2011.

256 Seiten, 19,90 €.

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