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Berühmt und berüchtigt. Humboldts Karte des damaligen Vizekönigreichs Neu-Spanien. Kritiker sagen, die USA hätten die Informationen darin später für die Eroberung eines Teils von Mexiko genutzt.

© David Rumsey Map Collection

Zum 250. Geburtstag des Naturforschers: War Humboldt ein Spion?

Der preußische Gelehrte gab Informationen an US-Präsident Jefferson. Das sehen vor allem Lateinamerikaner kritisch – zu Unrecht.

„Humboldt y las Américas“, das Themenjahr des Auswärtigen Amtes zum 250. Geburtstag des Naturforschers, stößt in Lateinamerika auf sehr positive Resonanz: Die Veranstaltungen deutscher Kulturmittler sind gut besucht, auch die große Bandbreite eigener Initiativen in den verschiedenen Ländern spricht für ein beständiges Interesse an dem preußischen Forschungsreisenden. Humboldt wird als verbindende Figur zwischen Amerika und Europa verstanden, als jemand, der sowohl zu Europa als auch zu der eigenen Geschichte gehört: „Humboldt es vuestro, pero también es nuestro“ (Humboldt gehört euch, aber uns auch).

"Epistemologischer Kolonialismus"

Allerdings gibt es in diesem Gedenkjahr durchaus auch Kritik. Vor allem in Lateinamerika kritisieren manche zu Recht eine Humboldt-Rezeption, die von „epistemologischem Kolonialismus“ geprägt sei und nicht berücksichtige, dass viele seiner Erkenntnisse auf lokalen und indigenen Wissensbeständen aufbauten. Als problematisch sehen andere Kritiker die Konstruktion einer Heldenfigur, die unsere Welt retten soll, etwa vor drohenden ökologischen Desastern. Ihm selbst wird vorgeworfen, dass er seine Expeditionsreise im Rahmen des spanischen Kolonialreiches durchgeführt hat; dass manche seiner Praktiken zur Wissensbeschaffung zweifelhaft gewesen seien und dass er eigenwillig und unreflektiert Informationen an Dritte weitergegeben habe.

Historisch brisanter Moment

Vor allem der letzte Punkt wird häufig wiederholt, meist anhand des folgenden Beispiels. Im Frühjahr 1804 gab Humboldt seiner Reise durch die spanischen Kolonialgebiete eine neue Wendung, indem er einen sechswöchigen Aufenthalt in den Vereinigten Staaten hinzufügte. Es handelte sich um einen historisch brisanten Moment: Wenige Monate zuvor hatte Präsident Jefferson von Frankreich das Louisiana-Territorium erworben, das zuvor im Besitz Spaniens gewesen war, und mit diesem Kauf die Ausdehnung der jungen Nation verdoppelt. Jedoch gab es hinsichtlich der Grenzziehung unterschiedliche Vorstellungen in Spanien, an dessen Kolonialreich das Territorium angrenzte, und den USA.

Aus amerikanischer Sicht konnte der Zeitpunkt für einen Besuch des preußischen Forschungsreisenden, der zuvor Monate in den Archiven Neuspaniens mit dem Studium von Manuskripten und kartografischem Material verbracht hatte, nicht besser gewählt sein. Jefferson nahm die Gelegenheit umgehend wahr und stellte präzise Fragen, die Humboldt wiederum mit einer detaillierten Zusammenstellung von statistischen und geografischen Daten sowie seiner eigenen Einschätzung der Situation beantwortete.

Jahrzehnte später annektierten die USA Teile Mexikos

Genau hier setzt die Kritik ein: War Humboldt überhaupt befugt, Informationen an die USA weiterzugeben? Während ihn manche als Handlanger des spanischen Imperiums sehen, stellt sich für andere die Frage, ob er nicht vielleicht gar als Spion im Dienste der amerikanischen Regierung gestanden haben könnte. Dabei war Humboldt weder das eine noch das andere. Die Fragen hinter diesen Vorwürfen sind jedoch durchaus berechtigt: Aus welcher Motivation heraus handelte er? War er sich der Konsequenzen nicht bewusst? Jefferson war bekannt für seine expansionistischen Visionen, und es war offensichtlich, was der Kauf des Louisiana-Gebietes in diesem Zusammenhang bedeutete: nämlich einen wichtigen Schritt hin zum Pazifik, der umgehend zur Vorbereitung mehrerer Expeditionen zur Erkundung der Gegend führte sowie auch zur späteren Annexion von Teilen Mexikos, als Folge des amerikanischen-mexikanischen Krieges 1846–1848.

Humboldts als illegitim empfundene Weitergabe von Informationen an den nordamerikanischen Präsidenten beeinflusst bis heute seine Wahrnehmung, auch über Lateinamerika hinaus. Die Vorstellung von Humboldt als „Spion“ trübt stellenweise immer noch sein Bild und führt zu mancherlei Spekulationen hinsichtlich seiner möglichen Motivation.

Humboldt stellte Jefferson seine Karten zur Verfügung

Ein genauerer Blick auf die Situation und das von Humboldt an Jefferson übergebene Material bringt hier jedoch schnell Aufklärung. Es handelte sich um einen Auszug seiner geografischen und statistischen Studie mit dem Titel „Tablas geográfico-políticas del Reyno de Nueva España“, die er auf Bitte des Vizekönigs José de Iturrigaray angefertigt hatte und der er nun eine zweiseitige Zusammenfassung zum Louisiana-Gebiet hinzufügte. Außerdem stellte Humboldt seine Karte von Neuspanien und dem amerikanischen Südwesten zur Verfügung, also die berühmte „Générale du Royaume de la Nouvelle Espagne“, um die Fausto de Elhúyar, der Direktor der Bergbauschule Mexikos, den preußischen Bergbauexperten gebeten hatte.

Beide Unterlagen waren also eigene Ausarbeitungen, basierend auf Archivmaterial, nicht etwa Geheimdokumente, die Humboldt einer feindlichen Macht überbracht hat. Nachdem er beides den spanischen Behörden ausgehändigt hatte, glaubte er sich dazu berechtigt, diese Informationen auch an andere weiterzureichen, zumal er das als unabhängiger Wissenschaftler tat, der die Kosten seiner Expeditionsreise selbst trug.

Ein früher Verfechter der "Open Science"

Dieses Beispiel zeigt, wie er Praktiken vorwegnahm, die wir heute unter dem Begriff Open Science besser verstehen, also eine offene Wissenschaft, die allen zugänglich gemacht wird, nicht nur einer bestimmten Gruppe, Institution oder einem Land. Humboldt wollte Staatswissen in globales Wissen umwandeln. Das war es, wofür er seine Zeit, sein Vermögen und seine Gesundheit gegeben hat, nicht um das Wissen in Archiven zu speichern oder es den Interessen einer einzigen politischen Macht zur Verfügung zu stellen. Auch Spanien gegenüber fühlte er sich dazu nicht verpflichtet – zumal dieselben Ausarbeitungen auch zur Publikation vorgesehen waren. In dieser Hinsicht war er lediglich seiner Zeit voraus, doch glücklicherweise haben wir inzwischen aufgeholt. Auch dies ist ein Grund, Alexander von Humboldt zu feiern.

Die Autorin ist Wissenschaftshistorikerin. Sie hat die Studie „Wahrnehmung Humboldts in Lateinamerika“ (Stuttgart 2019) erstellt. Im nächsten Jahr erscheint ihr Buch „Humboldt’s Empire of Knowledge: From the Royal Spanish Court to the American President’s House“, University of California Press. Sie spricht heute um 18 Uhr im Festprogramm im Humboldt Forum.

Sandra Rebok

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