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Der gequälte Geist der Buchstaben. Neben zahllosen Hightech-Objekten gab es in Leipzig auch diese Schreibmaschine zu sehen.

© dpa

Zum Ende der Leipziger Buchmesse: Lass uns die Regierung terrorisieren

Leipzig fungiert immer mehr als Austragungsort osteuropäischer Konflikte. Impressionen von der Buchmesse, die jetzt zu Ende gegangen ist

Von Gregor Dotzauer

„Vorsicht Buch!“, heißt die auf drei Jahre angelegte Imagekampagne des Börsenvereins für den stationären Buchhandel, die einen auf der Leipziger Buchmesse von oben und unten und von der Seite her anschreit. Sie schmückt die Treppenaufgänge in der Glashalle, sie hängt von den Decken der Passerelles zwischen den Hallen, sie tritt einem in Gestalt fröhlicher Promoter mit Flyern, Postkarten und Luftballons („Es raubt dir den Atem“) entgegen. Und wenn man nicht aufpasst, fällt man dabei auch noch Hellmuth Karasek oder Jorge Gonzalez, dem beneidenswert charmanten König der Highheels, bekannt aus der Castingshow „Germany’s Next Topmodel“ und Autor von „Hola Chicas!“ (Heyne), vor die Füße, die sich in den Dienst dieser pro Jahr mit einer Million Euro ausgestatteten Initiative gestellt haben. Wie sie kann man sich zwischen den mehr als mannshohen Hälften eines aufgeklappten Buches vertäuen und mit dem Spruch „Ein Buch hat mich gefesselt“ fotografieren lassen.

An welche Klientel damit appelliert wird und wie die Sprüche bei jemandem verfangen sollen, der sich Texte weder als Genuss- oder Rausch- geschweige denn Erkenntnismittel vorstellen kann, gehört zu den Rätseln eines Lobbyismus, der am völlig falschen Ende ansetzt. Wer es schon mit beiden Beinen in eine der angeschlossenen Buchhandlungen geschafft hat, dem braucht man nicht mehr auf die Sprünge helfen. Nicht weniger absurd, nur frei von jeder Ironie, die Eröffnungsrede des sächsischen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich, der im Gewandhaus eine Zweitausendschaft leidlich literater Menschen ernsthaft vor den gesellschaftlichen Verheerungen eines funktionalen Analphabetismus warnen zu müssen glaubte, wo man hätte denken können, dass auch ein dysfunktionaler Alphatierismus Gefahren in sich birgt.

Der Ernst der Sache liegt, bei allem Unterhaltungswert solcher Einlassungen, ohnehin woanders, und es ist Jahr für Jahr eine der bewegendsten Erfahrungen, dass Leipzig als eine Art diplomatischer Außenposten für viele in Ost- und Südosteuropa schwelende Konflikte fungiert. Unsichtbar blieb eigentlich nur die Wut der Bulgaren auf ihr von zurückgetretener Regierung und die russische Mafia ruiniertes Land, die sich in Sofia, Varna und Plovdiv seit Wochen Bahn bricht. Der winzige bulgarische Stand präsentierte Kinderbücher, eine unmaßgebliche Auswahl literarischer Titel und Reisebroschüren, deren Exemplar für „Öko- und Bauerntourismus“ von den Worten eingeleitet wird: „Um Bulgarien kennen zu lernen, müsste man in seine Authentizität eintauchen, die Früchte seiner Natur kosten, es mit dem Rucksack durchwandern und einen Strauß voller Erinnerungen und Empfindungen pflücken.“

Nur ein paar Meter weiter, bei den Serben, weiß man aber genau, wie es um die Nachbarn steht. Denn man versteht sich, sprachlich wie mental und besonders politisch, leider nur zu gut. Unter dem neuen serbischen Kulturminister Predrag Markovic, der den sehr viel weltoffeneren Nebojša Bradic abgelöst hat, ist der Etat um 70 Prozent geschrumpft. Die Gelegenheit, die eigene Literatur oder auch den künstlerisch derzeit florierenden Film international sichtbar zu machen, schwinden dramatisch – und das in einem Land, das davon träumt, so schnell wie möglich der EU beizutreten. Warum Bulgarien schon seit 2007 Mitglied sein darf, während Serbien, das in seiner ganzen aus Minderwertigkeitskomplexen geborenen Großmannssucht und Verblendung weitaus stabilere demokratische Strukturen hervorgebracht hat, nicht nur wegen des Kosovo-Problems außen vor bleiben soll, versteht gerade unter den kritischen Geistern niemand. Ja sie glauben, dass eine baldige Aufnahme, die beste Möglichkeit wäre, nationalistische Kräfte an die Kandare zu nehmen und denen, die dieses Land voranbringen wollen, ein Zeichen der Hoffnung zu geben.

Die Suche nach Sündenböcken vergiftet das eigene Denken

Wie wichtig daher, dass vom Auswärtigen Amt über Pro Helvetia bis zur S. Fischer Stiftung ein ganzes Konsortium westeuropäischer Kräfte einspringt, wo die Länder der Region überfordert sind, das Gespräch miteinander zu führen. Ein besonders verdienstvolles Beispiel ist Traduki (http://german.traduki.eu), das ein Netzwerk von Autorinnen und Autoren geschaffen hat, die sich sonst vielleicht nie begegnen würden. So liest dann die kosovarische Albanerin Blerina Rogova Gaxha ihre Gedichte dem Rumänen Claudiu Komartin vor und fordert „Blumen für die Ehrlichkeit“: „Bringen wir sie alle dazu, Albanisch zu sprechen und meine quälende Erzählung zu hören / Lass uns dann mit allen Freunden in den Welt und mit den Feinden flirten / Ich werde Englisch lernen, aber besorg mir zuerst einen würdigen Zuhörer / Den ich peinigen kann. Lass uns die Regierung terrorisieren. / Bringen wir sie dazu, Englisch zu sprechen, und bringen wir ihnen bei wie man Sex macht / Weil mich die Art peinigt, wie sie öffentlich sprechen und sich anbrüllen“. Und Komartin, der in der Wiener Edition Korrespondenzen schon den Band „Und wir werden die Maschinen für uns weinen lassen“ veröffentlicht hat, entfaltet seine Empörung in surrealistischen Bildern.

In der mittlerweile dritten deutschen Ausgabe der „Kulturpropagandabeilage Beton“, die sonst im Zweiwochenrhythmus der Belgrader Tageszeitung „Danas“ beiliegt, kann man einen Teil dieser rebellischen Stimmen mit nach Hause tragen. Eine klingt hier schwärzer als die nächste, und man bekommt den Eindruck, dass mitten in Europa lauter failed states agieren. Den finsteren Höhepunkt bildet György Szerbhorváths Essay „Die“. Er beschreibt mit seltener Brutalität, wie die Suche nach Sündenböcken für die soziale Misere das eigene Denken vergiftet und an die Stelle des Antisemitismus ein vernichtungswilliger Antiziganismus getreten ist. Der 1972 geborene Szerbhorváth lebt als Angehöriger der ungarischen Minderheit in der serbischen Vojvodina, attackiert aber vor allem Viktor Orbáns nationalkonservative Fidesz-Regierung in Budapest, wo er seinen magyarischen Namen gar nicht tragen dürfte, sondern nur den serbischen, der in seinem Pass steht: Derd Horvat.

Ungarn wiederum ist in Leipzig durch das Collegium Hungaricum Berlin (CHB) vertreten. Der 1946 geborene, in seinem Land überaus erfolgreiche Erzähler, Dramatiker und Literaturwissenschaftler György Spiró, auf Deutsch bisher nur mit seinem Roman „Der Verruf“ (Nischen) verlegt, wird hier als der Mann präsentiert, der von seiner Bedeutung her neben arrivierte Autoren wie Imre Kertész und Péter Nádas treten müsste – auch in seiner jüdischen Identität.

Als ungarisches Auslandsinstitut scheint das CHB immerhin noch an der Mäßigung einer Hasskultur mitarbeiten zu können, die es zulässt, dass in Budapest brave Bürger ihre Hunde eigens vor die Synagoge scheißen lassen. Es ist auch von daher zumindest ein leiser Akt des Widerstands, wenn nun die erste ungarische Literaturgeschichte in deutscher Sprache auf dem jüngsten Stand vorgestellt wurde. Herausgegeben von Ernö Kulcsár-Szabó, der nach zehn Jahren an der Humboldt-Universität nun an der deutschsprachigen Budapester Andrássy-Gyula-Universität lehrt, erscheint sie in den nächsten Wochen bei de Gruyter und präsentiert alle Autoren, die nach 1989 ihre weltliterarische Stimme erhoben und heute vielfach als vaterlandslose Gesellen gelten. Der auf Anhieb sichtbare Nachteil dieser „historisch-poetologischen Darstellung“ ist nur ihr schamloser Preis 149,95 Euro.

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