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Kultur: Zum Exzess bereit

Spielzeiteröffnung mit neuer Intendanz: Hesses „Demian“ am Grips-Theater

Muss man sich am Grips-Theater jetzt um den Sittenverfall sorgen? Eine Boulevardzeitung jedenfalls tut es. Was der neue Intendant Stefan Fischer-Fels sich bloß bei diesem Foto gedacht habe, schlagzeilt das Blatt, darüber das Motiv, mit dem die erste Premiere der Saison am bislang wenig anzüglichen Kinder- und Jugendtheater beworben wird: eine Reihe Nackter mit den Händen an die Wand gelehnt, wie weiland bei Langhans und Obermeier daheim, auf ihren Pobacken der Titel geschrieben, „Schöner Wohnen“. Sollte Fischer-Fels das gemeint haben, als er ankündigte, den Spielplan erwachsener ausrichten zu wollen – Kommune 1 statt Linie 1?

Putzigkeiten beiseite. Erst Anfang September wird sich herausstellen, ob auf die künstliche Erregung auch die künstlerische folgt, dann feiert die Gentrifizierungsfarce „Schöner Wohnen“ ihre Uraufführung. Zur Spielzeit-Eröffnung allerdings wollte der Nachfolger von Volker Ludwig, so sagte er's in einem Interview, schon mal „seine Visitenkarte abgeben.“ Mit der vorerst einmaligen Übernahme einer Erfolgsproduktion aus seiner Zeit als Leiter des Jungen Schauspielhauses in Düsseldorf, der Hermann-Hesse-Bearbeitung „Demian - Die Geschichte einer Jugend“ in der Regie von Daniela Löffner.

Tatsächlich – hier lassen die Schauspieler öfter mal die Hüllen fallen. Es wird geflucht, geknutscht, gekämpft, mit Eiern geworfen und mit allerlei Farbe und Flüssigkeiten gespritzt. Ein Theater der Entgrenzung. Nach einer Stunde sieht die Bühne aus wie ein Augiasstall. Aber Grund zur Sorge? Im Gegenteil.

Sollte diese Inszenierung wirklich repräsentativ für die Ästhetik sein, die Fischer-Fels will, dann stehen dem Grips spannende Zeiten bevor. Löffner packt Hermann Hesses zart-zerquälte Coming-of-Age-Geschichte von 1919 so unverschämt und kraftvoll beim Schopf, dass es einen über ein paar Lücken in der Inszenierung mühelos mitreißt. Auf dem Spiel steht das Seelenheil des Emil Sinclair, der schon in jungen Jahren die dunkel lockende Welt jenseits des behüteten Elternhauses zu spüren beginnt.

Zwei Seelen wohnen, ach, in seiner Brust, der Widerstreit von Göttlichem und Teuflischem stürzt den Knaben in die Sinnsuche. Und treibt ihn dem Freigeist Max Demian in die Arme, der Sinclair mit radikalen Reden verstört – dem berühmten Bild vom Vogel, der aus dem Ei schlüpft: „Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören.“ Löffner hat keine Mühe, diese Erzählung über das erwachende Selbstbewusstsein und seine Verwirrung ins Heute zu holen. Was junge Menschen so Straucheln lässt, hat sich seit Hesses Zeiten ja nicht wesentlich verändert. Die demütigende Erpressung Emils durch einen Mitschüler – erscheint hier als bedrückend-aktuelles Schulhof-Mobbing. Die Zeit am Internat, wo der Held sich als Kneipenkönig fast um den Verstand trinkt – wird von der Regisseurin furios als kollektives Komasaufen im wummernden Club-Sound inszeniert.

Ein exzessbereites Düsseldorfer Ensemble trägt diesen mutigen, fast dreistündigen Abend. An der Spitze der junge Philipp Grimm, der als Emil Sinclair einen ganz eindringlich-schutzlosen Ton trifft. Schade, dass er nicht ans Grips Theater folgt, der Mann wäre ein Gewinn für egal welche Berliner Bühne. Intendant Fischer-Fels jedenfalls, das ist die vorzeitige Bilanz dieser Spielzeiteröffnung, hat einen hellwachen Begriff von Jugendfreiheit. Patrick Wildermann

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